Als Artillerist
in Stalingrad
Aquarelle eines Überlebenden
66 Jahre nach Stalingrad
* 11.08.1920 †
29.01.2017
Wigand Wüster als
Artillerist in Stalingrad
- Aufzeichnungen eines Schlachtteilnehmers -

Oberleutnant Wigand Wüster im August 1942 in
der Nähe von Charkow (Ukraine)
Sommeroffensive 1942 im Süden der Ostfront:
Eines der Ziele war Stalingrad. Hier sollte der Teil des militärischen
Nachschubs abgeschnitten werden, den die Alliierten von Süden her der
Sowjetunion zukommen ließen. Diese gewaltigen Lieferungen nahmen den Weg
durch den Iran und wurden über die Wolga ins Land verschifft. Darüber
hinaus sollte Stalingrad selbst, als eines der größten und wichtigsten
Rüstungszentren der Sowjets, ausgeschaltet werden.
Marsch zur Wolga
Mit Jahrgang 1920, war ich
zweiundzwanzigjährig Chef einer Artilleriebatterie, die der 71.
Infanterie-Division angehörte. Die 71. befand sich im Verband der 6.
Armee und zu dieser Zeit auf dem Vormarsch zum Don. Bei Nischne
Tschirskaja und beim Bahnhof Tschir gab es auch für unsere schwere
Abteilung vermehrt harte Einsätze.
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Inspizierung eines russisches
Schlachtflugzeuges an der Don-Hochstraße zwischen Tschir und Kalatsch.
Wegen der von höheren Stäben befohlenen
wechselnden Schwerpunktbildungen fuhren wir häufig hinter der Front
herum, ohne überhaupt zum Schuss zu kommen. Diese Methode war uns
inzwischen nicht mehr neu. Aus unserer Sicht hatten die klugen Herren
immer noch nicht dazugelernt, denn unnötig wurden unsere Kräfte verzehrt
und teils wichtige Gelegenheiten zum Gegenschlag vertan. Weiter nördlich
lief bereits die Schlacht um den Donübergang. Die erstmals 1942 bei
Charkow zum Einsatz gekommene 384. Infanterie-Division verblutete,
nachdem sie schon in der Charkow-Schlacht übermäßig gelitten hatte. Als
die Russen später bei Stalingrad den Kessel schlossen, wurde sie
endgültig zerrieben und aufgelöst. Ihren entbehrlich gewordenen
Kommandeur hatte man noch rechtzeitig ausgeflogen. Innerhalb eines guten
halben Jahres ist so eine ganze Division verbraucht worden. Während
eines russischen Feuerüberfalls auf meine 10. Batterie waren unsere bis
dahin freundlich-zuverlässigen Hiwis (Hilfswillige) verschwunden. Wir
hätten wohl besser auf sie aufpassen müssen. Noch war leicht Ersatz
unter den reichlich zukommenden Kriegsgefangenen zu finden.
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Ein KW-1 Beutepanzer, der von meiner
Batterie zu einer Zugmaschine umgebaut werden sollte.
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Das Innere dieses Panzers . Die Reparatur
und der Umbau glückten letztlich nicht.
Wir waren insgesamt viel zu sorglos. Nachts
wurden kaum Wachposten aufgestellt. Oft waren nur die Nachrichtenleute
wach, um Befehle oder Feuerkommandos entgegenzunehmen. Mit wenigen
entschlossenen Leuten des Gegners wäre unsere Batterie leicht zu
überrumpeln gewesen. Doch glücklicherweise ist das in meinem Umfeld nie
geschehen. Bisher hatten sich unsere Verluste bei der schweren
Artillerieabteilung auch im Jahr 1942 in Grenzen gehalten. Man dachte
mehr an die Strapazen des Vormarsches als an die übliche Gefahr. In der
Nacht zum 11. August 1942, meinem 22. Geburtstag, marschierte die
Batterie auf einer breiten sandigen Rollbahn entlang des Don-Steilufers.
Irgendwo weiter nördlich sollte über den Strom gesetzt werden. In
welcher Reihenfolge marschiert wurde, war mir unbekannt. Es mussten aber
schon Teile der Abteilung voraus sein. Ich hatte meinen Marschbefehl
erhalten und führte ihn ohne Kartenmaterial und ohne Hinweise zur
allgemeinen Lage aus. Sicherungsmaßnahmen waren nicht befohlen, schienen
also entbehrlich.
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Blick auf eine brennende Ortschaft am Don.
Als es gegen 3 Uhr früh rechts voraus, unten
am Don, schoss. Es war fast ausschließlich Infanteriefeuer. Niemand von
uns empfand das als alarmierend. Die schläfrige Gemütlichkeit fand erst
ein jähes Ende, als ein Meldereiter auf uns zugaloppiert kam und
meldete, die Russen seien über den Don und hätten die 11. Batterie vor
uns auf der Rollbahn überrannt. Wo waren die Stabsbatterie und die 12.?
Keine Ahnung. Was war zu tun? Weitermarschieren war zu riskant -
umkehren, ausreißen? Auch das ergab keinen Sinn, hätte sogar fatale
Folgen haben können. Selbst hinter uns konnten die Russen ja schon über
den Don sein. Zwischen Don und Rollbahn befanden sich keine eigenen
Truppen mehr. Sollte ich den Kommandeur um Befehle angehen? Das ging
nicht, denn sein Aufenthalt war unbekannt. Balthasar war wieder aus dem
Lazarett zurück. „Abwarten ist nie verkehrt.“, dachte ich. So ließ ich
alle Fahrzeuge in einem Wäldchen in Deckung fahren und die 4 Haubitzen
getarnt zum Don hin feuerbereit machen. Damit stellte ich zwar einen
schnellen Abmarsch infrage, aber bei Erscheinen der Russen hätte ich
anders meine Geschütze nicht mehr zum Einsatz bringen können.
Beobachtungsposten schickte ich zur Rollbahn vor und richtete mit allen
verfügbaren Leuten eine Nahverteidigung der Feuerstellung ein, in der
unsere beiden abmontierten Fla-MG mit Verwendung fanden. Schließlich
schickte ich Leutnant Lohmann mit zwei Funkern nach vorn, um bei
ausreichender Helligkeit auf den Gegner zu feuern. Die Rollbahn blieb
wie leergefegt. Von vorn kam nichts zurück und von hinten folgte niemand
mehr. Wir fühlten uns einsam und verlassen auf weiter Flur. Zunehmendes
Infanteriefeuer war zu vernehmen. Unruhig und frierend standen alle
herum. Lohmann meldete sich über Funk. Es war inzwischen ziemlich hell
geworden. Über die Lage konnte er nichts Genaues berichten. Aber er
hatte eine russische Übersetzstelle erkannt und meldete Boots- und
Floßverkehr. Also schießen, damit überhaupt etwas geschah. Unser
Artilleriefeuer war wohl ein Hoffnungsschimmer für die 11. Einige Reiter
und Kanoniere zu Fuß, kamen in unsere Feuerstellung und berichteten,
dass der Russe plötzlich aus dem Dunkel ihre marschierende Batterie
überrannt hatte. Geschütze und sonstige Fahrzeuge ständen noch bespannt
auf der Rollbahn. Man habe knapp das eigene Leben gerettet. Der
Batteriechef kämpfe mit den meisten Kanonieren infanteristisch gegen die
vorgehenden Russen. Wo war der Rest dieser Abteilung? Das
Infanteriefeuer kam näher und dann rannten unsere Melder auf uns zu:
„Die Russen kommen!“. Das war nun eine wirklich heikle Situation. Ich
wies die Geschützführer für den Direktbeschuss ein, teilte
Munitionsträger zu und stellte unter Führung von zwei Wachtmeistern
„Schützenkorps“ auf, die so früh wie möglich das Gewehrfeuer eröffnen
sollten. Nur die Fahrer blieben bei ihren Pferden in Deckung. So konnten
sie vielleicht bei zunehmender Gefahr noch entkommen.
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Mit der Einheit über die Brücke eines
kleineren Flusses.
Als sich die ersten Gestalten auf der
Rollbahn gegen den Morgenhimmel abhoben, zögerte ich kurz, um ganz
sicher zu sein, dass es wirklich Russen waren und nicht etwa
zurückziehende eigene Leute. Ich gab das Kommando, welches ich in Polen
als Geschützführer so oft gehört hatte: „Geschützführer - Feuer Frei!“
„Entfernung - 1000 Meter.“ Damit war der Bann gebrochen, der Druck im
Hals ließ nach. Fast besser als beim Salveschießen verließen vier
Granaten die vier Rohre. Noch ehe nachgeladen war, feuerten auch meine
Schützen und die MGs. Die Russen konnten jedenfalls nicht mit unserer
Batterie gerechnet haben. Sie stutzten und zogen sich heftig feuernd
zurück. Offenbar bekamen sie auch an ihrer rechten Flanke
Infanteriefeuer. Das konnten die Reste der 11. Batterie gewesen sein.
Meine Schützen griffen jetzt mit ein, gingen offen vor und schossen
stehend auf den Gegner. Lohmann meldete sich erneut. Er beobachtete
zurückziehende Russen und bekämpfte sie, wie auch die Übersetzstelle,
mit indirektem Beschuss.
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Die Protze wird mit vereinten Kräften in
Stellung gebracht.
Für unsere 10. Batterie war noch einmal
alles gut gegangen. Ich war stolz auf meine Kanoniere, die bisher noch
nie unmittelbar mit dem Gegner in Berührung gekommen waren. Die Männer
hatten ihre Arbeit mit ruhiger Selbstverständlichkeit verrichtet,
allerdings hätten die Gewehrschützen sich hinlegen sollen, um keine
Zielscheiben zu bilden. Eine genauere Einweisung vorher wäre wichtig
gewesen. Nun hatten sie keine infanteristische Ausbildung und ich auch
nicht. Keiner der Leute verdrückte sich heimlich, obwohl die Möglichkeit
dazu bestand. Nach einiger Zeit kam Oberstleutnant Balthasar angeritten,
über den ich mich wegen einer ungerechtfertigten Disziplinarstrafe
beschwert hatte. Ich traf ihn zum ersten Mal nach seinen
Brandverletzungen, die offensichtlich gut abgeheilt waren. Er war guter
Dinge. Die Fahrzeuge der 11. Batterie und Stabsbatterie waren zurück
gewonnen. Sie hatten noch auf der Rollbahn gestanden, ohne nennenswerten
Schaden genommen zu haben. Der Russe war durch unseren
Artilleriebeschuss, der ja auch ihre Übersetzstelle bedrohte, kopflos
geworden. Jetzt wich er vor den „infanteristischen Artilleristen“
zurück. Auf der Rollbahn kam eine motorisierte Schützenkompanie der 24.
Panzer-Division von Süden herangefahren, um die Situation zu bereinigen.
Balthasar wies die Hilfe zurück, da er alles im Griff habe und dankte
für das Angebot. Ich war mir da nicht so sicher, hielt aber den Mund.
Gerne hätte ich der Infanterie den Vortritt gelassen und nicht auf die
eigene Improvisation gesetzt. Tatsächlich gewannen die Russen ihr
Selbstvertrauen zurück, als sie erkannten, dass sie vor
„Amateur-Infanterie“ geflohen waren. Sie formierten sich und gingen zum
erneuten Angriff gegen uns vor. Lohmann erkannte das als erster und
versuchte sie so gut wie möglich mit Artilleriefeuer zu belegen. Ich
rechnete mit dem Schlimmsten und entsandte Unteroffiziere der
Protzenstellung, um nach Hilfe Ausschau zu halten. Diesmal gerieten
meine Leute in Panik, als sie über die Rollbahn hinweg zu uns in die
Feuerstellung zurück kamen. Die Jungs machten keinen so guten Eindruck
mehr. Sie waren völlig außer Atem und erzählten schreckliche Dinge. Die
11. Batterie wurde erneut überrannt, weil dort fast alle Leute
Infanterie spielten und nur wenige Fahrzeuge in der kurzen Zeit von der
Rollbahn abgezogen werden konnten. Als meine Batterie gerade wieder zum
Direktbeschuss übergehen musste, erschien aus Richtung Protzenstellung
eigene Infanterie aus den Büschen. Es wurde schließlich ein ganzes
Bataillon unserer Division, das da gegen den Feind vorging. Endlich war
der Bann gebrochen. Die Infanteristen gingen die Sache von Anfang an mit
mehr Geschick und Routine an, setzten ihre MGs und Granatwerfer ein und
waren im Gelände kaum wahrzunehmen, wo wir Artilleristen vorher in
dichten Haufen herumgelaufen waren. Als mein „Schützenkorps“ neuen Mut
fasste und sich der Infanterie anschließen wollte, winkte ein
Kompanieführer dankend ab. Die Unterstützung durch unerfahrene
„Schlachtenbummler“ sei keine Hilfe, eher eine Belastung. Der Soldat der
Artillerie konnte zwar mit dem Karabiner schießen, doch darüber hinaus
fehlte ihm jede infanteristisch-taktische Ausbildung. Daher gerieten wir
stets in Bedrängnis, wenn es zum Nahkampf kam. Zur Ehre meiner Leute
muss aber gesagt werden, dass sie sich am Geschütz stets gut gehalten
haben, selbst unter stärkstem gegnerischem Feuer. Auch die
Munitionsfahrer standen ihren Mann. Leutnant Lohmann war die ganze Zeit
nicht in Schwierigkeiten geraten. Er griff erneut in das Geschehen ein,
schoss auf die weichenden Russen und vor allem auf die Übersetzstelle,
die sie für ihren Rückzug nutzen wollten. Die Feuerstellung der 10.
Batterie wurde zum Sammelpunkt für versprengte Teile der Abteilung. Die
12. Batterie schien unbeteiligt geblieben zu sein. Sie war wohl zu weit
voraus, als der Spuk begann. Bei der 11. und der Stabsbatterie hatte es,
hauptsächlich in der zweiten Phase schwere Verluste gegeben, als die
Russen erneut angriffen. Der Batteriechef und der Batterieoffizier waren
gefallen, der Abteilungsadjutant Schmidt wurde schwer verwundet. Ich
sprach noch kurz mit Peter Schmidt, der mir unter Schmerzen seine
Enttäuschung über Balthasar bekannt gab. Er starb noch auf dem
Hauptverbandsplatz. Der Führer des Artillerie-Vermessungstrupps, der
junge übereifrige Leutnant Vahrenholz, war auch gefallen. Andere
Offiziere trugen Verwundungen davon. Unteroffiziers- und
Mannschaftsverluste waren relativ gering. Die Ursache dafür war, dass
die selbst im Infanteriekampf unerfahrenen Offiziere zu viel hin und her
gelaufen waren, um ihre Leute einzuweisen. Keiner wusste so recht, was
zu tun war und wie er sich tatsächlich verhalten sollte. Erst waren sie
in dichten Haufen losgerannt, hatten stehend freihändig geschossen und
wurden plötzlich ängstlich. Die Leute verkrochen sich, um schließlich
vor Furcht kopflos auszureißen. Auch unsere 10. hatte einige Ausfälle.
Der Sanitätsgefreite, ein besser polnisch als deutsch sprechender
Oberschlesier, war mit vorgegangen und von den Russen niedergemacht
worden, als er einen zurückgebliebenen Verwundeten versorgte. Gerade
dieser Mann hatte sich wiederholt durch mutige Pflichterfüllung bewährt.
In seinem bewussten „Deutsch“ reagierte er empfindlich, wenn ihn seine
Kameraden wegen seiner etwas holprigen Ausdrucksweise gehänselt hatten.
Es sah nun schlecht bei unserer IV. Abteilung aus. Wie konnte Balthasar
nur die motorisierten Schützen abweisen? Hätte er nicht alles tun
müssen, um Infanterie heran zu bringen, zumal niemand die Stärke der
übergesetzten Russen kannte? Unsere Verluste gingen daher weitgehend auf
Balthasars Konto. Doch darüber sprach niemand. Balthasar erhielt sogar
das lang ersehnte EK I. Mir wurde die Führung der 11. Batterie
übertragen, die über keinen Offizier mehr verfügte. Die 10. konnte sich
mit ihren verbliebenen zwei Leutnants selbst helfen. Der Vormarsch in
Richtung Kalatsch am Don ging weiter. Für mich war es nicht einfach, mit
den mir fremden Leuten, eine Batterie neu zu gliedern. Spieß und
Unteroffiziere verhielten sich loyal, hatten aber vor allem ihre eigenen
Belange im Auge und dachten erst in zweiter Linie an die
Funktionsfähigkeit der gesamten Abteilung. Der gefallene Chef, der
aktive Oberleutnant Bartels, einige Jahre älter als ich, hatte ein
wirklich gutes Reitpferd hinterlassen - „Teufel“, ein kräftiger Rappe.
Endlich hatte ich ein vernünftiges Pferd! Nach „Panther“ und „Petra“
hatte ich mich bei der 10. mit „Siegfried“ abfinden müssen. Der war zwar
ein gut aussehender Gaul, aber zu schwach auf der Vorderhand. Viel war
mit dem Tier nicht anzufangen. Seine Springleistungen waren dürftig.
Wirklich wichtig war das allerdings nicht mehr, seitdem der
Russlandfeldzug 1941 begonnen hatte. Reitveranstaltungen, bei denen man
sich hätte profilieren können, fanden kaum noch statt. Die Pferde waren
nicht mehr danach. Mit „Teufel“ erlebte ich ein paar schöne Reitertage.
Wir hätten uns gewiss aneinander gewöhnt, wenn er nicht eines Tages
ausgerissen wäre. Pferde liefen immer wieder weg. Alles Suchen blieb
erfolglos. Wer hätte auch ein zugelaufenes gutes Pferd wieder
herausgegeben? Vielleicht war „Teufel“ ja auch geklaut worden.
Pferdeklau war ein beliebter „Sport“.
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Die Don-Überquerung unterhalb Kalatsch mit
dem Pontonfloß, geschoben von einem Sturmboot.
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Aufnahmen von unserer Don-Überquerung.
Kalatsch war inzwischen in deutscher Hand.
Der Brückenkopf auf dem Ostufer des Don war ausreichend gesichert.
Deutsche Panzer stießen bereits auf Stalingrad vor und unsere Batterie
wurde nachts, weiter südlich von den Divisionspionieren, im Fährbetrieb
über den Strom gebracht. Die Übersetzstelle lag unter Störfeuer.
Sogenannte „Nähmaschinen“ (langsam fliegende russische Doppeldecker)
warfen Leuchtschirme und dann ihre Bomben ab. Es ging dennoch alles gut.
Auf der Ostseite des Don herrschte einige Verwirrung. Es gab kurze
Einsätze in verschiedenen Richtungen. In dem sandigen Gelände war es
schwierig mit den Geschützen herumzukarren. Dann hieß es: deutsche
Panzer seien bereits nördlich von Stalingrad bis zur Wolga vorgestoßen.
Wir fanden eigene Flugblätter, auf denen Stalingrad von deutschen
Panzern eingekreist war. Davon merkten wir aber nichts, denn die Russen
leisteten heftigen Widerstand. Weder sahen wir deutsche noch russische
Panzer. Erstmals traten jetzt in stärkerem Maße russische Flugzeuge auch
tagsüber in Erscheinung. Diese modernen einmotorigen Schlachtflugzeuge
stürzten sich im Tiefflug mit feuernden Bordwaffen und Raketen auf
unsere langsamen Kolonnen. Auch Bomben warfen sie ab. Die hummelartigen
Ratas aus dem Jahre 1941 sah man nicht mehr. Wenn die Flugzeuge quer zur
Marschrichtung angriffen, richteten sie fast nie Schaden an. Als aber
zwei „Schlächter“ aus allen Knopflöchern feuernd die Batterie aus der
Marschrichtung kommend anflogen, rechnete ich mit schwersten Verlusten.
Vom Pferd herunter in den deckungslosen Boden gekrallt vernahm ich Lärm,
Detonationen, Staubwolken und Aufregung. Als nach Sekunden alles vorbei
war, war nichts geschehen. Durch die Splitterwirkung gab es einige
belanglose Schäden an unseren Fahrzeugen. Der Schornstein der Feldküche
war durchschossen. Aber wie durch ein Wunder gab es keinen verletzten
Mann und kein betroffenes Pferd. Dafür wurde unsere Batterie bei
mittäglicher Rast auf einer Kolchose durch den Notwurf einer deutschen
He 111 schwer in Mitleidenschaft gezogen. Niemand hatte sich um die
langsam und sehr niedrig fliegende eigene Maschine gekümmert, als
plötzlich Bomben zwischen unseren dicht aufgefahrenen Fahrzeugen
detonierten. Ich sah noch drei Flieger aus dem schräg abstürzenden
Flugzeug springen, deren Fallschirme sich nicht mehr rechtzeitig
öffneten. Dann schlug das Flugzeug auf und explodierte. Um das brennende
Wrack konnte sich niemand kümmern. Da war ohnehin nichts mehr zu retten.
Die getroffenen Soldaten und Pferde meiner Batterie erforderten allen
Einsatz. Auf dem Munitionswagen hatten Kartuschen Feuer gefangen. Aus
Einschusslöchern an den Kartuschenkästen sprühte Feuer wie Wasser aus
einem geplatzten Schlauch. Die Kästen mussten sofort von den Fahrzeugen
gerissen werden, damit sie gefahrlos ausbrennen konnten und nicht alles
in die Luft zu fliegen drohte. Vor allem mussten sie weg von den
Granaten. Ich trat auf den Oberarmstumpf eines ohnmächtig gewordenen
Fahrers, weil ich die Schlagader nicht mit dem Daumen abdrücken konnte.
Endlich brachte jemand einen Bindestrick, mit dem wir abschnüren und die
Blutung zum Stillstand bringen konnten. Wir hatten drei tote Kameraden
und zahlreiche Verletzte zu beklagen. Darunter befanden sich mehrere
Schwerverwundete. Etliche Pferde mussten erschossen werden. Die
Materialschäden waren relativ gering. Unser Zorn richtete sich gegen die
Flieger. Konnten die ihre Bomben nicht früher oder später abwerfen, wenn
sie es denn unbedingt mussten? Hatte der Abwurf noch Sinn gehabt, wenn
sie ohnehin rettungslos abstürzten? Als wir die Absturzstelle
aufsuchten, war außer ausgebrannten Trümmern nichts mehr zu finden. Die
drei Besatzungsmitglieder lagen mit ihren Fallschirmen grotesk verrenkt
am Boden. Der Aufprall musste sie unmittelbar getötet haben. Wir
begruben die Toten gemeinsam mit unseren gefallenen Kameraden im
Kolchosegarten. Die Erkennungsmarken wurden abgebrochen, Uhren und die
wenigen persönlichen Sachen zusammengepackt und mit kurzem Bericht
zurückgesandt. Ich hatte nun die unangenehme Aufgabe des
Briefeschreibens an die Angehörigen. Das musste sein, aber passende
Worte waren nicht leicht zu finden. Eine etwas objektivere Betrachtung
des Vorfalls setzte sich erst nach und nach durch. Was kann man
billigerweise von Fliegern in Not verlangen? Was soll man tun, wenn die
getroffene Maschine nicht mehr in der Luft zu halten ist? Der Versuch
einer Bauchlandung in dem ebenen Gelände hatte sich wohl angeboten, doch
dafür mussten die bereits scharfgemachten Bomben raus. Der
Resttreibstoff für sich war bereits gefährlich genug. Kann man in solch
einer Situation wirklich noch abwägende Überlegungen erwarten, ehe man
sich zur Handlung entschließt? In der Nacht ging es durch einen schmalen
Korridor weiter in Richtung Stalingrad, den die deutschen
Panzer-Divisionen zur Wolga hin geschaffen hatten. Am Vormarschweg sahen
wir zusammengeschossene deutsche Kolonnen mit noch unbestatteten
Leichen. Rechts und links zeigte uns Mündungsfeuer von Geschützen, dass
der Schlauch nicht breit sein konnte. Naheinschläge feindlicher Granaten
hielten sich aber in Grenzen. Es war vermutlich nur Störfeuer. Bei einem
Halt in der Nähe entdeckten wir, an einem zerschossenen russischen
Panzer, einen halb verbrannten und ununterbrochen zitternden,
schwerverwundeten Russen. Er musste in der kalten Nacht noch einmal zu
Bewusstsein gekommen sein, gab aber keinen Laut von sich. Der erste
Blick zeigte die Aussichtslosigkeit jeder Hilfe. Ich wandte mich mit dem
Gedanken ab, was ich tun solle. „Erschieß ihn doch einer!“ hörte ich
rufen. „Mach doch Schluss!“. Dann hörte ich einen Pistolenknall und
fühlte Erleichterung. Ich wollte nicht wissen, wer diesen Gnadenschuss
abgegeben hatte. Selbst wäre ich dazu nicht in der Lage gewesen, obwohl
mir der Verstand sagte, dass diese erlösende Kugel menschlich war. Am
frühen Morgen mussten wir eine Balka durchfahren. Dabei handelt es sich
um tiefe Erosionsschluchten, die oft unvermutet durch die Steppe führen
und meist völlig trocken liegen. Bei starken Regenfällen und
einsetzender Schneeschmelze werden sie stetig weiter ausgewaschen. Die
Spitze unserer Batterie war gerade dabei durch einen Nebenarm der
Schlucht schon wieder den Aufstieg zu beginnen, als Panzergranaten in
der Nähe der Fahrzeuge einschlugen. Wir sahen einen T 34, der am Ende
der Hauptschlucht ziemlich hoch über uns stand und in rascher Folge mit
seiner 7,62 cm – Kanone auf unsere Batterie feuerte. An Kehrtmachen war
in dieser engen Schlucht nicht zu denken, auch nicht an das umständliche
Feuerbereitmachen einer Haubitze. Es hieß also, weiterfahren mit
vergrößerten Abständen und beten. Der Panzer schoss pausenlos. Jeden
Augenblick konnte es einen Treffer geben, denn wir kamen ja nur im
Schritt voran. Ich hatte das Gefühl, die Schüsse gingen zwischen den
Pferdebeinen hindurch. Der harte Abschussknall und die Granateinschläge
in unmittelbarer Nähe verstärkten das Gefühl entsetzlicher Hilflosigkeit
und wehrlosem Ausgeliefertsein. Wie gern wäre ich als Einzelreiter davon
galoppiert, aber so – undenkbar. Offenbar verschoss der Panzer seine
letzten Panzersprenggranaten, sonst hätte es eine größere
Splitterwirkung und Schäden geben müssen. Uns war unbegreiflich, dass
wir keinen Treffer erhielten. Die Batterie kam ohne Schaden durch die
Balka, wenn es auch eine Ewigkeit zu dauern schien. Schließlich
verschwand der Panzer aus unserem Blickfeld. Später ging unsere Batterie
in einer flachen Senke in Feuerstellung. Da die Umgebung unter starkem
Artilleriefeuer lag, wurden sofort Deckungslöcher für die
Geschützbedienungen ausgehoben. Ich begab mich in unmittelbare Nähe des
Deckungsloches für die Fernsprecher und Funker und musste dort mehrfach
Schutz suchen. Die Lage war unübersichtlich und den Frontverlauf, sofern
es überhaupt einen gab, kannte ich nicht. Ich wusste nicht einmal, wer
vor oder neben mir eingesetzt war. Gelegentlich erreichten mich
widersprüchliche Marsch- und Einsatzbefehle, die die Lage noch
zusätzlich verwirrten. Vorsorglich richtete ich auf dem nahen
Deckungshügel eine Nah-Beobachtungsstelle mit Drahtverbindung zur
Batterie ein. Eine 8,8 cm-Flak-Batterie fuhr an unserer Feuerstellung
nach vorn vorbei. Von meiner Beobachtungsstelle aus, sah ich voraus den
Bahnhof Gumrak, in dessen Nähe die Flak-Batterie im offenen Gelände in
Stellung ging. Als sie mit flacher Rohrerhöhung gegen den Bahndamm zu
feuern begann, erkannte ich hinter dem Bahndamm die Türme mehrerer T 34,
die das Feuer erwiderten. Es entspann sich ein hartes Duell, bei dem die
Flak erfolgreicher war. Einige Panzer brannten. Vorsichtig schoss ich
mich mit meiner Batterie auf den Bahndamm ein, um die Flak nicht zu
gefährden. Die 15 cm-Granaten schafften etwas Luft. Schließlich
verschwanden die Panzer. Die Flak protzte auf und zog weiter. Sie schien
keinen größeren Schaden genommen zu haben, obwohl es von meinem
„Logenplatz“ aus nicht immer gut für sie ausgesehen hatte. Es wurde
wieder ruhiger. Ich war in die Feuerstellung zurückgekehrt, setzte mich
an den Rand des Deckungslochs und ließ die Füße baumeln. Mehr aus
Langeweile als aus Hunger aß ich etwas. Die Sonnenstrahlen wärmten
ordentlich und ich war müde, fand aber keine Ruhe zum Schlafen.
Plötzlich schlug eine Granate in unmittelbarer Nähe ein. Ein starker
Schmerz durchzuckte meinen linken Oberarm. Ich ließ mich instinktiv ins
Loch fallen und sah, dass die daneben stehende Lafettenprotze einen
Volltreffer erhalten hatte. Zerrissen standen nur noch Reste und Räder
herum. Den schmerzenden Arm konnte ich kaum bewegen. Diesmal habe ich
etwas Ernsteres abgekriegt, dachte ich, kein harmloser Kratzer wie
bisher immer. Es ging auch schon viel zu oft gut. Mein Feldblusenärmel
war unbeschädigt und Blut floss auch keins. Herbeieilende Kanoniere
halfen mir die Feldbluse und das Hemd auszuziehen. Jede meiner
Bewegungen war äußerst schmerzhaft. Vielleicht konnte auch etwas
gebrochen sein. Es stellte sich aber nur eine sehr starke Prellung
heraus, die sich noch immer anschwellend verfärbte. Ein Bleckstück der
Protze war vermutlich gegen meinen Arm geflogen.
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Die zerfetzte Protze, an der ich meine
Prellung davontrug.
Bei dem nun wieder einsetzenden
Störungsfeuer reagierte ich nervöser als üblich. Dabei wurde ich von
einem stämmigen Geschützführer gefoppt, der mit braungebranntem
Oberkörper in der Nähe stand und den Helden spielte. Als ich ihm riet,
sich besser in Nähe einer Deckung aufzuhalten so lange der Feindbeschuss
andauere und wir selbst keine Feuerbefehle auszuführen hätten, warf ihn
der nächste Naheinschlag zu Boden. Der Mann hatte ein faustgroßes Loch
in der Brust. Noch bei Verstand nahm er wahr, dass es keine Chance mehr
gab. Es war schon ein Wunder, dass der Mann mit dieser schweren
Verletzung bei Bewusstsein blieb. „Das hätte nicht sein müssen. Man soll
doch auch mal auf seine Vorgesetzten hören, wenn sie es gut meinen.“
sagte er mehr zu sich selbst. Dabei rang er sich ein letztes Lächeln ab.
Er starb schnell, ohne dass ich ihm große Schmerzen angemerkt hätte.
Vielleicht ist das bei besonders schweren Verwundungen so. Das geschah
am 4. September 1942. Später sollte ich erfahren, dass genau einen Tag
vorher der Bruder meiner zukünftigen Verlobten gefallen war. Seit dem
11. August, dem Überfall auf der Rollbahn am Don, hatten sich die
Ereignisse überstürzt. Die Gefechte hatten nun auch für die IV.
Abteilung härtere Formen angenommen. Immer wieder gab es Ausfälle. Man
wurde allgemein ängstlicher und vorsichtiger. Aber ich konnte in jeder
Situation auch jetzt noch entspannt schlafen. Trotzdem war auch ich
nicht ganz so ruhig und ausgeglichen, wie ich nach außen wirkte. Ich
hatte mir schon seit der Schulzeit angewöhnt, keine Gemütsregungen zu
zeigen. Die Prellung am Arm schmerzte immer noch. Das
Verwundetenabzeichen wollte ich dafür nicht haben, denn ich hatte das
ungute Gefühl, dass es mich dann vielleicht noch richtig erwischen
würde. Ein erneuter Stellungswechsel wurde befohlen. Jetzt gab es wieder
eine klare vordere Linie. Alle drei Batterien der schweren Abteilung
standen mit 12 Rohren, die schon etwas ausrichten konnten, dicht
beieinander. Wie üblich, befand ich mich auf der Haupt-B-Stelle, von der
aus man jetzt schon den Westrand der langgezogenen Stadt Stalingrad sah.
Kampf in der Stadt
Etwas näher, links voraus, befand sich der
Komplex der Fliegerschule. Die Division sollte in den nächsten Tagen
angreifen. Es gab gutes Kartenmaterial und Tagesziele wurden bis in die
Stadt hinein festgelegt. Ob man sie mit der inzwischen arg geschwächten
Division auch erreichen würde? B-Stellen und Feuerstellungen wurden gut
ausgebaut und die Geschütze durch Ringwälle gesichert, um so gut wie
möglich gegen Feindfeuer geschützt zu sein. Die Infanterie musste
umgliedern. Sie bedurfte dringend einer Ruhepause. Der neu zur Division
gekommene, jugendlich wirkende Oberst Roske, zog als einziger die
vernünftigen Konsequenzen: Er löste ein Bataillon und mehrere Kompanien
auf und bildete zwei halbwegs kampfkräftige Bataillone, wobei er
Reiterzug, Fernsprecher und Pioniere weitgehend mit eingliederte. Vor
der Neugliederung waren die Kompanien bereits unter Zugstärke
abgesunken. Nur die Trosse hatten in etwa ihre ursprüngliche Stärke. Sie
waren im Verhältnis überdimensioniert und so konnten aus ihnen
Verstärkungen für die Front gewonnen werden. Begeistert werden die
Betroffenen nicht gewesen sein. Roske kam mit seiner Methode auch besser
mit den noch zur Verfügung stehenden Offizieren und Unteroffizieren
zurecht. Doch es blieb dabei, dass junge Infanterie-Leutnants, noch
voller Ehrgeiz, kaum eine längere Lebenserwartung hatten als alle
anderen. Das beste, was ihnen passieren konnte, war ein „Heimatschuss“.
Man redete über solche Dinge nicht. Roske erhielt mit seinem auf dem
Papier schwachen Regiment einen schmaleren Abschnitt zugewiesen. Leider
widersprach das der Logik, da die beiden anderen Regimenter in
Wirklichkeit noch viel schwächer waren.
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Eine Balka in der Innenstadt.
Stalingrad lag unter ständigen deutschen
Luftangriffen. Starke Bomberverbände und Stukas waren trotz heftigster
Flak-Abwehr der Russen pausenlos im Einsatz. Die seit 1941 bekannten,
aber bisher doch selten in Erscheinung getretenen Stalinorgeln, befanden
sich bei Stalingrad im Masseneinsatz. Sie waren in vielerlei Hinsicht
mit unseren leichten Nebelwerfern vergleichbar. Bei den Russen hatte man
die Abschussgestelle auf Lastkraftwagen montiert. Das ermöglichte ihnen
einen schnellen Stellungswechsel. Zunächst machte dieses Waffensystem
einen sehr starken Eindruck auf uns. Das heulende Abfeuern war akustisch
ähnlich beeindruckend wie die Sirenen unserer Stukas. Die Staub, Dreck
und Feuer aufwerfenden Salveneinschläge der Stalinorgeln schienen in
ihrem Wirkungsbereich ein Überleben unmöglich zu machen. Durch das
Scherenfernrohr waren zahlreiche Erd- und Holzbunker am Stadtrand zu
erkennen. Die Infanterie arbeitete sich langsam und vorsichtig an diese
Befestigungslinie heran. Als sie nahe genug war, erschienen
Sturmgeschütze, die bis dicht vor die Bunker fuhren und die Scharten
unter Beschuss nahmen. Das in der Front stark gepanzerte Sturmgeschütz
IV, war ohne Turm gebaut, damit besonders flach und mit seiner 7,5
cm-Kanone robust und kampfstark. Auch als Panzerjäger waren
Sturmgeschütze erfolgreich. Doch Panzer selbst konnten sie wegen des
fehlenden schwenkbaren Turms nicht ersetzen. Daher war es an sich nicht
richtig, wenn sie gelegentlich wie Panzer eingesetzt wurden. Meist
gelang es den Sturmgeschützen die Bunker auszuschalten. Wenn nicht,
besorgten die Infanteristen mit Flammenwerfern und Sprengladungen den
Rest. Aus der Entfernung meiner B-Stelle heraus sah das Bunkerknacken so
professionell und selbstverständlich aus. Ich musste mich an den
Bunkerkampf vor Jahresende im Weta-Wald erinnern, um mir der Gefahren
dieses Kampfes bewusst zu werden. Kaum war ein Bunker erledigt, sah man
schon die Vorbereitungen für einen neuen Einsatz. Wenn dann das
Sturmgeschütz vor den nächsten rollte, lief der gleiche Film von neuem
ab. Es war schon bewundernswert, wie unsere Infanterie nach all den
Strapazen und hohen Verlusten noch immer in ruhiger
Selbstverständlichkeit schonungslos ihr schweres Handwerk verrichtete.
Das war ungebrochener Kampfgeist ohne Hurrageschrei. Hurra hatten wir in
diesem Krieg nur selten geschrien. Danach war uns kaum zumute. Wir
glaubten eine Pflicht erfüllen zu müssen, glaubten an die
Unvermeidbarkeit des Kampfes und sahen den Krieg nicht als Hitlers Krieg
an. Vielleicht ist es auch eine unhistorische Sicht der Dinge, wenn man
Hitler alle Schuld an diesem Krieg und seinen Gräueln zu geben versucht.
Insbesondere der amerikanische Präsident Roosevelt, wollte seit Mitte
der 30er Jahre die Vernichtung Deutschlands. Churchill dachte ähnlich.
Dabei war das Schicksal der europäischen Juden, den zionistisch
ausgerichteten US-Judenorganisationen relativ gleichgültig. Ernsthafte
Rettungsversuche wurden nicht unternommen, weil es der Finanzwelt ums
Geschäft ging. Stalin musste Hitler-Deutschland als Machtfaktor
ausschalten, wenn er Europa kommunistisch unter sowjetischer Führung
machen wollte. Das hatte Roosevelt nicht begriffen und Churchill hat es
zu spät erkannt. Hätte es den ehrlichen Kampfgeist der deutschen
Soldaten, unabhängig von allen NS-Einflussnahmen, nicht gegeben, wäre
unsere Moral erschüttert gewesen und kein noch so schneidiger Offizier
hätte uns vorwärts gebracht. Damals hat der einfache Frontsoldat
tatsächlich an die Notwendigkeit des Krieges geglaubt. Bei aller
Gewöhnung an die ständige Gefahr, mit zunehmender
Landsknechtsmentalität, musste er sich doch ausrechnen, dass die beste
Überlebenschance in einer nicht all zu schweren Verwundung lag, denn mit
anhaltender Unversehrtheit und Gesundheit war kaum zu rechnen. Unser
Artillerie-Regimentskommandeur Oberst Scharenberg wurde an die
Artillerieschule versetzt. Sein Nachfolger wurde von Stumpff, ein alter
weißhaariger Troupier, der bisher als Major die III. Abteilung geführt
hatte. Er war im Regiment allgemein geschätzt und erst kürzlich zum
Oberstleutnant befördert worden. Eigenartig, dass von Stumpff
Vorgesetzter Balthasars wurde, der bereits wesentlich länger
Oberstleutnant war. Ich nahm den Kommandeurswechsel zum Anlass, mich
nach dem Stand meiner Beschwerde zu erkundigen und erhielt als Antwort,
dass die Sache bald erledigt werden soll.
23

Die Balka mit Blick aus dem eingebauten
Erdstollen.
Am 11. September begann mit mehreren
Infanterie-Divisionen der Großangriff auf Stalingrad. Nach kurzer
Artillerievorbereitung, verstärkt durch Nebelwerfer verschiedenen
Kalibers, trat unsere Infanterie von zahlreichen Sturmgeschützen
begleitet zum Angriff an. Als die Soldaten den Stadtrand erreichten und
zwischen Holzhäusern und Gärten verschwanden, setzte ein wahres Inferno
von Stalinorgelsalven ein, das die Vorortsiedlungen in einem Wall von
Feuer und Rauch verschwinden ließ. Ich erhielt bald den Auftrag, als
vorgeschobener Beobachter Verbindung mit der Infanterie aufzunehmen, um
sie im Straßenkampf zu unterstützen. Von den Haupt-B-Stellen aus war
nichts mehr zu machen. Wir gingen entlang der Fliegerschule in Richtung
Stadt. Linker und rechter Hand befanden sich beschädigte Flugzeughallen
und moderne Kasernen im Bauhausstil. Vor mir, aber in beruhigender
Entfernung, blitzten immer noch ununterbrochen diese Stalinorgeln auf.
Irgendwie würde ich mit meinen Funkern da durch müssen. Ein bespannter
Fernsprechwagen fuhr in Richtung Stadt an uns vorbei. Es sollten
Drahtleitungen gelegt werden, um verlässliche Meldewege herzustellen.
Als wir die ersten Bretterzäune um die kleinen Hausgärten am Stadtrand
erreicht hatten, oft waren es nur primitive Flechtzäune um die Hütten,
sahen wir verstörte Frauen unter weißen Kopftüchern, die sich um ihre
verängstigten Kinder bemühten und aus der Stadt herausdrängten. Männer
bekamen wir keine zu Gesicht. Die Metropole machte in den Außenbezirken
einen verlassenen Eindruck. Ein Stück voraus stand jetzt der
Fernsprechwagen auf der gewölbten, unebenen teilasphaltierten Straße.
Ein unangenehmes Heulen zwang uns in Deckung. Dann krachten die
Stalinorgelraketen einer Salve auf die Straße. Das Pferdefahrzeug
verschwand in der feurigen Detonationswolke. Es stand mittendrin. „Die
hat es voll erwischt.“ meinte ein Funker mitleidig mit feinem Unterton,
der Erleichterung erkennen ließ, dass man selbst noch einmal davon
gekommen sei. Das ist das St. Florianprinzip: „Verschon mein Haus, zünd
andere an“. Zu unserer großen Überraschung war aber überhaupt nichts
passiert. Leute, Pferde und Fahrzeug waren unversehrt geblieben. Wieder
zu Atem gekommen, meinten die Landser den überstandenen Schreck
verbergend: „Mehr Dreck und Krach, als die ganze Sache wert ist.“ Dieser
Feststellung konnte ich mich nicht so ganz anschließen. Beim weiteren
Vorgehen gerieten wir abermals mehrfach zwischen Stalinorgeleinschläge,
die gleichzeitig eine große Fläche deckend, deprimierend wirkten. Dann
lagen wir ohne Deckung mittendrin auf der Straße und es ging dennoch
gut. Weil sich der Treibsatz an der Spitze der Raketengeschosse befand,
ging die Splitterwirkung der eigentlichen Sprengladung trichterförmig
nach rückwärts und rasierte nicht über den Boden hinweg, wie es bei
Granaten der Fall ist, wenn sie mit einem Aufschlagzünder verschossen
werden. Abpraller, die in niedriger Höhe in der Luft detonieren, sind
noch weit gefährlicher. Aus der beschriebenen Wirkungsweise der
Stalinorgelgeschosse erklärt sich auch der Rauch- und Feuerzauber.
Dennoch blieb der Gesamteindruck erschreckend, wenn auch die Gefahr
geringer war, als es zunächst den Anschein hatte. Wir gewöhnten uns
schließlich an diese Orgelei. Links der Straße befand sich ein recht
stabil wirkendes ebenerdiges Steinhaus, in dem wir einen Bataillonsstab
vorfanden. Der Bataillonsarzt bemühte sich in einem der Räume mit
einigen Sanitätern um Verwundete. Es herrschte reges Durcheinander.
Dieses Gebäude war ein ehemaliges Badehaus mit zahlreichen Dusch- und
Wannenbädern und besaß eine stabile Betondecke, die Stalinorgelbeschuss
stand hielt. Hier konnte man sich sicher fühlen. Es wurde bereits dunkel
und wir blieben. Draußen brannten die Holzhäuser lichterloh und wie 1939
in Polen blieben nur die gemauerten Kamine stehen. Lagerschuppen
stürzten lodernd in sich zusammen, aber auch mehrgeschossige
Backsteinhäuser brannten aus. Die Russen schossen die ganze Nacht
hindurch. „Nähmaschinen“ warfen kleine Bomben, größere Maschinen
schwere. Die großen Einschlagtrichter machten die Straßen immer
unpassierbarer. Ich konnte damals noch nicht ahnen, dass genau dieses
Badehaus zum Ende des Januar 1943 mein letzter Kampfstand in Stalingrad
sein wird, und dass ich um dieses Haus zum letzten Mal als Soldat für
Adolf Hitler kämpfen sollte, der lieber eine ganze Armee opferte, statt
diese Stadt aufzugeben. Mit Stalingrad sollte eine Welt für mich
zusammenbrechen. Die andere, sich mir danach öffnende Welt würde ich
bewusster und mit kritischeren Augen betrachten und beurteilen können.
Zur Skepsis neigte ich im allgemeinen ohnehin. Ich sah in niemanden
einen „Übermenschen“, dem man bedingungslos hätte folgen müssen. Sicher
ist es bequemer und erfolgreicher, dem jeweiligen „Zeitgeist“
nachzulaufen, sei es auch nur aus Opportunismus. In der gespenstisch
brandhellen Nacht herrschte dennoch gute Stimmung. Am späten Nachmittag
hatte Roskes Regiment im ersten zügigen Vorstoß, mitten durch die Stadt,
die Wolga erreicht und hielt sich bis zum letzten Tag. Eigene Verluste
hatten sich dabei in Grenzen gehalten. Die Nachbardivisionen versäumten,
den Russen über das gesetzte Tagesziel hinaus beim Zurückweichen auf den
Fersen zu bleiben. Die südlich von uns eingesetzten Divisionen mussten
noch schwere Kämpfe bestehen, bis auch sie zur Wolga vorstoßen konnten,
und die nördliche Nachbardivision erreichte trotz vieler massiver
Angriffe die Wolga so nie. Zunächst hielt die 71. Division nur einen
relativ schmalen Schlauch bis zur Wolga, dessen Flanken unzureichend
gesichert waren. T 34 Panzer durchquerten ihn auf den Straßen und es
wurden noch verschiedene Häuserblocks von den Russen gehalten. Am frühen
Morgen folgten wir Meldern, die bereits halbwegs sichere Pfade durch die
Trümmer kannten. Sie wussten vor allem, welche Straßen vom Gegner
einzusehen waren. Die musste man dann einzeln im schnellen Lauf
überspringen um heil durchzukommen. Das war neu für uns Artilleristen,
aber ungefährlicher als wir zunächst glaubten. Bevor der Russe den
einzelnen Springer wahrnehmen, zielen und schießen konnte, war man schon
über die Straße hinweg und wieder in sicherer Deckung verschwunden. In
einem Schulgebäude, das am oberen Rand des zur Wolga abfallenden
Steilhanges stand, fand ich eine brauchbare Beobachtungsstelle. Ich sah
die Wolga und eine Insel mit russischen Flakstellungen, die ich
erfolgreich bekämpfen konnte. Jenseits des Stroms lag das weitläufige
Dorf Krasnaja Sloboda. Das diesseitige Wolgaufer konnte ich nicht
einsehen. In der Stadt wurde erbittert um einzelne Häuser gekämpft. Im
Süden, jenseits der Zariza-Schlucht, war die Wolga noch nicht erreicht.
Dort ragte der bekannte große Getreidesilo über die Umgebung empor.
24

Der vorgeschobene Beobachter unserer
2.Batterie am Wolga-Hochufer.
In die Häuserkämpfe konnte ich mit der
Batterie nicht eingreifen. So nahm ich außer den Flakstellungen auf der
Insel, Wagenkolonnen und Anlegestellen bei Krasnaja Sloboda unter Feuer.
Unsere Batterie zog dann bis an den Stadtrand vor, um weiter in das
russische Hinterland wirken zu können. Stukas unterstützten uns, trafen
aber leider nicht immer nur den Feind, im Gewirr der Straßenzüge und
unklaren Kampflinien. Dies war dann auch der Grund, dass ich mich nicht
auf einzelne Häuser einschießen konnte. Sicherheitsabstände von 200
Metern musste man schon allein wegen der Geschoßstreuung einhalten. Die
Nächte gehörten noch immer den Russen, die unentwegt schossen und
bombardierten. Brände beleuchteten Straßen, Wege und Plätze.
25

Blick in eine Straße Nähe der Fliegerschule.
Zufällig traf ich in der Stadt mit den
Oberleutnants Hofmann und Vosfeldt zusammen, die mit mir vom
Artillerie-Regiment 19 zu den 171ern gekommen waren. Über sie erfuhr ich
vom Tod Friedrich Neumanns, der mir nahe stand. Als vorgeschobener
Beobachter war er in seinem Deckungsloch tot zusammengerochen. Eine
Verwundung konnte nicht festgestellt werden. Vielleicht war es ein
Hitzschlag oder Stress. Friedrich war ein schlanker, sportlicher Typ
gewesen, kein „Ackergaul“ wie ich. Doch er war nervös und leicht
erregbar. Und er war es auch gewesen, der mit meinem Pferd „Panther“
kein Glück hatte. Vosfeldt war ziemlich einsilbig und hatte wenig zu
berichten. Hofmann war erst vor kurzer Zeit aus dem Lazarett gekommen.
Ein kleiner Granatsplitter war ihm durch den Oberkörper gegangen, ohne
größeren Schaden angerichtet zu haben. Kaum zu glauben, dass er das so
komplikationslos überleben konnte. Er hatte sich kleine Flicken an der
Ein- und Ausschussstelle auf die Feldbluse setzen lassen. Ich musste
unwillkürlich an die Sage der Kennzeichnung auf Siegfrieds Rücken
denken. Gerd Hofmann wirkte recht distanziert, irgendwie abgeklärt, so
gar nicht kumpelhaft, eher jenseits der Ereignisse stehend. Sein Bruder
war vor kurzem als U-Boot-Offizier gefallen und nun schien er selbst zum
Sterben bereit zu sein. Gerd war ehrgeizig, stets bedacht, eine gute
Figur zu machen und enthielt sich jeglicher Kritik an Vorgesetzten.
Dennoch war er ein guter Kamerad und bei aller Distanz doch ein
menschlicher Vorgesetzter. Er bot sich für Stabsfunktionen an, während
ich lieber Führer einer Einheit mit eigenem Verantwortungsbereich sein
wollte. Mir fehlte allerdings jede Bereitschaft zu sterben. Was hatte
ich denn schon von meinem jungen Leben gehabt? Ich stellte noch
Ansprüche an ein künftiges Dasein, wollte den Glanz, den der
Offiziersberuf ausstrahlte, genießen. Die Uniform hob positiv von der
Zivilbevölkerung und den Braunhemden der Parteiorganisationen ab. Auch
ein gutes Reitpferd schenkte inneren Auftrieb und Prestige nach außen.
Berufssoldat war damals der Modeberuf. Den Krieg empfand ich als Übel,
welches aufrecht und auf anständige Weise, aber möglichst ohne Haare
dabei zu lassen, durchgestanden werden musste. Etwas naiv vielleicht,
nur war ich nicht darauf aus, mir für Kratzer vom Arzt das
Verwundetenabzeichen verschreiben zu lassen. Das hätte ich als
Herausforderung des Schicksals verstanden, weil ich unter Verwundung
etwas Ernsteres verstand. Natürlich dokumentierte das
Verwundetenabzeichen das persönliche Opfer. Daher hatten gerade weniger
gefährdete Soldaten an ihm Interesse. In meiner „Wurstigkeit“ klammerte
ich die Themen Verwundung und Tod für meine Person aus. Damit vermied
ich Beklemmungen und länger anhaltende Angstzustände. Damals glaubte
ich, dass zu einem Berufssoldatenleben auch ein Kriegseinsatz gehöre und
man nicht nur ein „Paradesoldat“ sein dürfte. So war es mir recht, dass
diese Bewährungsprobe am Anfang meiner Karriere lag und nicht erst
später, wenn ich Familie hatte. Meine Batterie sollte nun den Abschnitt
der Nachbardivision im Norden artilleristisch unterstützen, damit diese
möglichst doch noch zur Wolga vordrängen konnte. Ich musste meine
B-Stelle verlegen und fand in einem abgebrannten Holzhausviertel einige
unterirdische Lagerräume mit Betondecke, die wir zusätzlich mit einigen
Schichten Eisenbahnschwellen aus einem nahen Depot verstärkten. Hiwis
(Hilfswillige, meist Russen) nahmen die Erdaufschüttungen vor. In der
Nähe vegetierten noch einige russische Familien ohne wehrfähige Männer.
Sie litten sehr unter dem unverändert starken russischen Beschuss. Da
gab es immer wieder herzerschütternde Szenen, wenn sie Tote und
Verletzte zu beklagen hatten. Wir halfen ihnen, so gut wir konnten.
Unsere Sanitäter und Ärzte taten ihr Bestes. Nach und nach entstand
sogar auf diese Weise ein gewisses Vertrauen zu uns. Allerdings machten
sie uns für ihr Schicksal verantwortlich, weil wir sie größerer Gefahr
ausgesetzt hatten, indem wir uns den sicheren Unterstand genommen und
ausgebaut hatten. Dennoch dauerte es eine geraume Zeit, bis sie bereit
waren, auf die deutschen Angebote einzugehen und die Stadt nach Westen
mit unseren Nachschubkolonnen zu verlassen.
26

Blick über Stalingrad.
Die eigentliche Beobachtungsstelle mussten
wir im Dachstuhl einer Hausruine einrichten, die wir ebenfalls mit
Eisenbahnschwellen abzusichern versuchten. Es blieb ein windiges Nest
mit gefährlichem Zugang. Auch der dunkle Unterkunftskeller war
unwirklich und unbeliebt. Unsere Hiwis mieden den Keller und hatten
Ausfälle. Sie taten uns leid, weil sie ihren eigenen Landsleuten zum
Opfer fielen, nachdem sie dem deutschen Feuer noch gar nicht so lange
entkommen waren. Gewiss, sie taten diese Hilfsdienste freiwillig, wenn
auch nicht aus Liebe zu uns. Wenn sie also Gefahren auf sich nahmen, so
taten sie es nur, um dem deprimierenden Gefangenenschicksal zu entgehen.
Ein Schicksal, das sie mit all seinen Strapazen und der unzureichenden
Verpflegung zumindest kurzfristig erlebt hatten, als sie wie Viehherden
durch die Steppe getrieben wurden. Als Hiwis lebten sie immerhin
„halbfrei“, erhielten aus der Feldküche satt zu essen und wurden auch
sonst ausreichend versorgt. Unter uns hatten sie nicht zu leiden.
Mancher mag an Flucht gedacht haben. Es schienen sich genügend
Gelegenheiten dafür zu bieten, doch wenige sind verschwunden. Die
meisten gaben sich über Erwarten willig, arbeitsam und treu. Unsere
Unterstützung hatte der Nachbardivision nicht viel gebracht. Im
eigentlichen Häuserkampf konnten wir nicht helfen. Hier ging es mit
Handgranate und Maschinenpistole von Straßenseite zu Straßenseite, von
Haus zu Haus, von Stockwerk zu Stockwerk und sogar von Wohnung zu
Wohnung. Die Russen verbissen sich mit einer über die schon hohe
Kampfmoral hinausgehenden Hartnäckigkeit in die Trümmer der Stadt, dass
kaum mehr ein Vorwärtskommen möglich war. Das Polit-Kommissarwesen
konnte dafür keine Erklärung sein. Wie sollte es sich denn im
Häuserkampf auswirken können?
27

Die Straßenbahn-Außenlinie in der Nähe
unserer Feuerstellung.
Wir ermaßen erst jetzt unser Glück, dass wir
es im ersten Angriffsschwung geschafft hatten, tief in das Stadtzentrum
vorzudringen und einen breiten Streifen das Wolgaufer in die Hand zu
bekommen. Schließlich gelang es mir, einen größeren Industriekomplex bei
der Nachbardivision unter Feuer zu nehmen. Nach sehr vorsichtigem
Einschießen rissen unsere 15cm-Granaten Löcher in die dicken
Backsteinmauern. Doch an eine Zerstörung der Gebäude war dabei längst
nicht zu denken. Erst nach mehreren Versuchen gelang es den Nachbarn, in
die Fabrikanlagen einzudringen, ehe die Verteidiger nach dem
vorbereitenden Artilleriebeschuss wieder in Aktion traten. Der Nahkampf
in den Gebäuden dauerte noch Tage, denn mit dem Eindringen musste die
Artillerieunterstützung enden. Ich wurde zum Regimentskommandeur von
Stumpff befohlen. Meine Disziplinarstrafe hatte man aufgehoben. Der
angebliche Kurzschuss ließ sich nicht nachweisen und mir war kein
Fehlverhalten anzulasten. Der betroffene Abteilungskommandeur hatte nur
eine Vermutung ausgesprochen und war sich keineswegs sicher gewesen,
dass es sich um eine deutsche Granate gehandelt habe. Er hatte nur
vorsorglich auf sich aufmerksam machen wollen, denn eine Granate kommt
selten allein. Und wegen dieses Vorfalls hatte Balthasar versucht, mir
eins auszuwischen - wie schäbig sein ganzes Vorgehen. Hätte Kuhlmann
dabei mitspielen dürfen? Man fragte mich, ob ich auf die Anwesenheit
anderer Offiziere bestehe, falls Balthasar bereit sei, seine
beleidigenden Äußerungen von damals zurückzunehmen. Ich verzichtete.
Peter Schmidt war am Don gefallen. Wenn man so will war er ein Opfer
Balthasars gewesen. Andere Offiziere waren nicht zugegen. Von Stumpff
schien über meinen Verzicht erfreut zu sein und ließ den in der Nähe
befindlichen Balthasar herbeirufen, der nach einigen förmlich-steifen
Entschuldigungsfloskeln wieder verschwand. Ich atmete erleichtert auf
und begab mich zu meiner B-Stelle zurück. Wenige Tage später hatte ich
bei Balthasar zu erscheinen, der mir seine schriftliche Beurteilung
eröffnete. Sie war in ihren wesentlichen Punkten vernichtend:
…„oberflächlich, unzuverlässig, unreif, zur Führung einer Batterie
ungeeignet…“. Das waren Formulierungen, die ich nur mit Mühe aufzunehmen
verstand. Dennoch kochte ich vor innerer Wut und hilflosem
Ausgeliefertsein. Ich hatte alle Anstrengung nach außen Haltung zu
bewahren. Auf die Frage: „Wollen Sie etwas dazu sagen?“ verneinte ich
und verschwand. Balthasar hatte diese Situation genossen. Mir erschien
beim Abgang alles so sinnlos. Hätte ich darauf hinweisen sollen, dass
ich nach der Bestrafung über Monate unter ihm die 10. und jetzt die 11.
Batterie geführt hatte? War meine Beschwerde nicht zum „Schuss nach
hinten“ geworden? War die üble, objektiv unsachliche und ungerechte
Beurteilung nicht gewichtiger als die Bagatellbestrafung? Wie würde der
Regimentskommandeur reagieren? Würde ich wenigstens von Balthasar
wegversetzt werden? Nach der kurzen Freude über den Beschwerdeerfolg
hatte dieser Schlag jedenfalls gesessen. Was nun? Was könnte ich gegen
die Beurteilung unternehmen? Mit wem könnte ich mich beraten? Da war der
Oberleutnant Ocker, der 1940 bei der 10. Batterie gewesen und jetzt als
Jurist beim Kriegsgericht der 71. Division tätig war. Doch so eng war
die Verbindung zu ihm nicht, dass ich mich rasch entschließen konnte.
Ein Anruf des Regimentskommandeurs riss mich aus meinen trüben Gedanken:
„Sie übernehmen sofort die 2. leichte Batterie. Oberleutnant Wackermann
ist vor einiger Zeit gefallen, seit dem läuft es da nicht so recht.
Bringen Sie wieder Ordnung in den Laden. Außerdem müssen Sie raus aus
der IV. Abteilung. Das sehen Sie ja wohl ein, nach allem was gewesen
ist.“ - „Jawohl, Herr Oberstleutnant. Aber haben Herr Oberstleutnant…“,
weiter kam ich nicht. „Was soll das nun wieder? Was heißt hier, ja,
aber?“ Ich entgegnete: „Nach der Beurteilung, die Sie offenbar noch
nicht kennen, bin ich als Batterieführer völlig ungeeignet.“ „Ihre
Beurteilung liegt mir vor. Ich nehme sie nicht zur Kenntnis, und jetzt
ab mit Ihnen zur 2. Batterie. Ende!“ Das war für mich die optimale
Lösung und ich war überglücklich. Doch ich verkniff mir die Freude, um
meine Soldaten der 11. nicht vor den Kopf zu stoßen, die treu zu mir
gehalten hatten. Irgendwie war ich auch froh, von den „Fußbombern“ fort
zu kommen. Die leichte Artillerie erschien mir noch immer
kavaliersmäßiger, mit mehr Reitergeist, weniger Handwerk, weniger
Schweiß und Schinderei. In dieser gefühlsmäßigen Einstellung lag einige
Inkonsequenz, da ich die Hochschuloffizierslaufbahn einschlagen wollte,
um mich mit Geschützbau und Waffenentwicklung zu beschäftigen. War doch
der technisch-wissenschaftliche Teil der Artilleristik bedeutsamer als
der Reitergeist, von dem inzwischen auch bei den leichten Abteilungen
wegen des schlechten Pferdematerials nicht mehr die Rede sein konnte.
Ich hätte zur Heeresartillerie streben sollen, um noch schwerere
Geschütze kennen zu lernen. Für ein späteres Studium hätte ich dann eine
breitere praktische Basis gewinnen können. Ich stand mit dem Chef der
Heeresrüstung, Oberst Karl, in brieflicher Verbindung. Er sandte mir
mathematisches Lehrmaterial zu. Es schien durchaus Interesse an
Offizieren zu geben, die bereit waren die Hochschule zu besuchen und
dafür über gute schulische Voraussetzungen verfügten. Die
Aufnahmeprüfung ging erheblich über mein Schulwissen hinaus. Ich würde
anhand des zugesandten Materials bei Gelegenheit einiges im
Selbststudium ergänzen müssen, aber das hatte noch Zeit. Leichten
Herzens begab ich mich zu der ganz in der Nähe liegenden B-Stelle der 2.
Batterie, die in einem Geschäftshaus komfortabel untergebracht war. Zwar
war das Dachgeschoß zerstört und auch die obere Betondecke wies
Durchschüsse auf, aber die übrigen Decken und insbesondere die schwere
Kellerdecke boten zuverlässigen Schutz. Der Haupt-Kellerraum war
zusätzlich mit schweren Holzträgern und Holzstempeln versteift worden.
Alles war mit Ölfarbe gestrichen. Hier musste ein höherer russischer
Stab residiert haben. Die Wände waren weiß gekalkt, es gab Holzfußboden
und Feldbetten. Ofen und Herd waren auch vorhanden. Durch Kellerschächte
fiel sogar Tageslicht herein. Hier ließ sich leben. Das Scherenfernrohr
stand im stabilen Treppenhaus. Zur Wolgafront hin hatten die Kanoniere
einen Sehschlitz durch die Mauer gestemmt. Sie hatten sich viel Mühe
damit gemacht und die hatte sich gelohnt. Man hatte jetzt einen
phantastischen Panoramablick über das Hauptbahnhofsgelände, die
Innenstadt und über die Wolga hinweg nach Krasnaja Sloboda – ungleich
besser als die B-Stellen in der Schule oder beim Bunker der 11. Nur den
Bereich der Nachbardivision konnte man nicht beobachten. Aber der ging
unserer 2. Batterie auch nichts an. Am gleichen Tag suchte ich die nahe
gelegene Feuerstellung auf. An der roten Backsteinkirche vorbei, ging es
die breite Ausfallstraße in Richtung Fliegerschule entlang. Zu meiner
großen Überraschung fand ich die Feuerstellung unmittelbar bei dem
Badehaus, in dem ich meine erste Stalingrader Nacht verbracht hatte.
Hier waren nun die Kanoniere gut untergekommen, obwohl sie noch für
jedes der vier Geschütze einen Holzbunker und Munitionskammern in die
Erde gegraben hatten. Sie dachten an den nahenden Winter und wollten
sich entsprechend einrichten. Zwischen den Trümmern der Holz- und
Lehmhäuser waren die Geschütze von Ringwällen umgeben und erst aus
nächster Nähe zu erkennen. Nie zuvor hatte ich eine so gut ausgebaute
Stellung gesehen und konnte mehr als zufrieden sein. Eigentlich war die
Feuerstellung zu nah, nämlich im Bereich der feindlichen Granatwerfer.
Man hatte sie schon nach Westen zurückverlegen wollen, befürchtete aber
Versorgungsschwierigkeiten. Andererseits konnte nur unsere leichte
Batterie ein gutes Stück über die Wolga hinweg wirken. Da Sie noch nie
unter Beschuss geraten war, weil der Russe wohl keine Batterie so weit
vorn vermutete, wurde die Stellung auf Dauer beibehalten. Holz zum
Stellungsbau und auch einiges Mobiliar war von den zerstörten Häusern
der nächsten Umgebung reichlich vorhanden. Wir konnten uns wohnlich
einrichten. Den kommenden Winter würden wir schon an der Wolga-Front
überstehen. Für Sommer 1943 hofften wir auf Erholung und
Wiederinstandsetzung der doch arg abgekämpften 71. Division in
Frankreich. Die anderen Batterien hatten es schlechter. Ihre
Feuerstellungen lagen am westlichen Stadtrand, wo sie auch der Russe
vermutete und beschoss. Holz zum Bunkerbau mussten sie in der Stadt
suchen, ausbauen, und dann mühsam in ihre Stellungen schaffen. Die I.
Abteilung war mir völlig unbekannt. Als ich mich bei meinem neuen
Kommandeur meldete, traf ich auf einen jungen aktiven Hauptmann, einem
ehemaligen 31er, der mich herzlich empfing. Sein Abteilungsgefechtsstand
befand sich in der Nähe der Schnapsfabrik. Die Produktionsgebäude waren
weitgehend zerstört. Außer leeren Wodka-Flaschenstapeln, die meisten zu
Glasklumpen zusammengeschmolzen, war nichts mehr da was an Getränke
erinnerte. Doch auch hier boten stabile Keller sichere Unterkunft. Von
hier begab ich mich zur Wolga. Ein Einweiser holte mich ab. Dort war der
vorgeschobene Beobachter der Batterie untergekommen und hier befanden
sich auch zwei russische 7,62 cm-Beutekanonen, die die Wolgafront
schützen sollten und auf Wolgaschiffe feuern konnten. „Ratsch-Bumm“
nannten wir diese modernen Kanonen. Abschuss- und Aufschlagknall folgten
kurz aufeinander. Die Kanonen verschossen Patronenmunition und
gestatteten höchste Feuergeschwindigkeit. Der halbautomatische
Verschluss warf beim Rohrücklauf die leere Patronenhülse automatisch
aus. Auch als PAK war die kleine Kanone gut geeignet. Der eigentliche
Nachteil dieses interessanten Geschützes war sein kleines Kaliber. Die
7,62 cm-Granate richtete nur wenig Schaden an und die Schrapnells, die
die Russen gern verschossen, waren noch wirkungsloser. Vielleicht hätten
wir uns aber doch einiges an der verblüffend einfachen und leichten
Geschützkonstruktion abgucken sollen. Unsere Geschütze waren zu
kompliziert und schwer in Bezug auf Kaliber und Leistung - so
zuverlässig sie auch immer waren.
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29

Der Rote Platz mit dem Obelisk im
Stadtzentrum.
Die Wolga-Halbbatterie war zwischen
Hochhausruinen am Steilufer der Wolga gut postiert. Ein Unteroffizier
führte hier das Kommando und war mit seinen Leuten gut und sicher in
einem Keller untergekommen. Der VB beobachtete ganz in unserer Nähe aus
einem Treppenhaus eines Wohnblocks heraus. Hier musste man sehr
vorsichtig sein, weil viele russische Scharfschützen mit
Zielfernrohrgewehren oder Panzerbüchsen auf der Lauer lagen, denen so
mancher Einzelgänger zum Opfer fiel. Nur wenn man wusste, nach wo der
Gegner einsehen konnte, war man in den Häusertrümmern einigermaßen
sicher. Man musste sich durch schnelles Springen von Deckung zu Deckung
fortbewegen. Inzwischen war aber auch schon viel für die Sicherheit
getan worden: Hinweisschilder waren angebracht, auch Sichtblenden
aufgestellt worden. Zur Überquerung einsehbarer Straßenzüge gab es
teilweise sogar sichere Laufgräben. Dennoch musste man sich genau
orientieren, besser noch, von ortskundig gewordenen Soldaten führen
lassen.
30

Ruinen im Stadtzentrum.
Schließlich war noch eine 10,5 cm-Haubitze
meiner neuen Batterie, ostwärts des Bahnhofsgeländes, in der Innenstadt
zum Häuserdirektbeschuss eingesetzt. Sie stand an einer Stelle, die ich
erst bei Dunkelheit erreichen konnte. Dieses Geschütz war schon
wiederholt zum Einsatz gekommen und jedes Mal, hatte es Verluste
gegeben. Die Einsätze konnten nur am Tage erfolgen, weil die Zielobjekte
nicht anders anzuvisieren waren. Schon vor dem ersten Schuss verstrich
zu viel Zeit, da das Geschütz aus der Deckung heraus im Mannschaftszug
in Schussposition gebracht werden musste. Zwei Kanoniere waren dann in
den Rädern, und unter jedem Lafettenschwanz drückte einer mit der
Schulter. Der fünfte und der Geschützführer drückten oder schoben, wo
auch immer, so gut sie konnten. Bis der erste Schuss das Rohr verließ,
befanden sich die Männer hilflos auf dem „Präsentierteller“. Die Russen,
die längst sahen was auf sie zukam, schossen mit allem was sie hatten.
Aber selbst wenn alles gut zu gehen schien und die Russen in Deckung
gezwungen werden konnten, feuerten sie mit ihren Granatwerfern.
Normalerweise wurden bei jedem Einsatz 30 bis 40 Granaten so schnell es
irgendwie ging gegen die Russenhäuser verschossen, um die Haubitze
möglichst bald wieder in sichere Deckung zurückziehen zu können.
31

Eine zerstörte Stalinorgel.
Während ihrer Schießerei konnten die
Kanoniere akustisch vom Gegner nichts wahrnehmen, weil sie selbst zu
viel Krach machten. Wenn dann die Granatwerfer mit ihrem Feuer gut
lagen, merkte es die Geschützbedienung erst, wenn es zu spät war. Viel
konnten wir mit unseren leichten Haubitzen nicht ausrichten. Bei
dickerem Mauerwerk schlugen auch die auf Verzögerung eingestellten
Granaten nicht durch. Mit Aufschlagzünder fiel nur der Putz von der
Wand. Wir schossen „Halbe-Halbe“ - Aufschlag und Verzögerung gemischt.
Wenn wir Glück hatten, trafen wir in eine Schießscharte oder durch eine
andere Maueröffnung ins Gebäudeinnere. Wir rechneten nicht damit die
Gebäude ernsthaft zu schädigen. Der Gegner sollte in Deckung gezwungen
werden, damit die Infanterie mit dem letzten Schuss eindringen konnte,
bevor die Verteidiger wieder auf ihren Posten waren. Das mochte in der
Theorie funktionieren, in der Praxis kam bei diesen verlustreichen
Unternehmungen wenig heraus. Es war ja verständlich, dass die Infanterie
unterstützende Hilfe von der Artillerie forderte, waren wir doch die,
die ohnehin weitaus weniger gefährdet waren. Unsere Kommandeure mochten
sich aus diesem Grunde auch nicht versagen, obwohl es wenig Sinn hatte.
Warum setzten die Infanterieregimenter nicht ihre so viel
wirkungsvolleren schweren 15cm-Infanteriegeschütze ein, die im
Steilfeuer sogar aus der Deckung heraus mehr bewirkt hätten? Beim
Einsatz ihrer Geschütze zeigten die Infanteristen aus meiner Sicht wenig
Einfallsreichtum. Als ich in der Nacht zum vorgezogenen Geschütz ging,
fand ich die Leute in gedrückter Stimmung. Für den nächsten Tag stand
wieder so ein Einsatz auf dem Plan und sie hatten Angst, weil fast immer
etwas passierte. Ich sah mich als „Neuzugang“ zur Batterie verpflichtet
an dieser Aktion teilzunehmen und überprüfte das Zielgelände. Ich suchte
nach einem möglichst sicheren Platz für das Geschütz. Es fand sich eine
Garage mit Betondecke, in die man die Haubitze von der Seite her
hereinbekommen würde. Durch das nicht mehr vorhandene Tor konnte man auf
Ziele feuern. Allerdings hingen und standen allerlei Trümmer im Weg,
welche zwar vorzügliche Tarnung boten, aber unseren Granaten im Wege
wären. Dennoch erschien mir alles recht vielversprechend. Am nächsten
Tag versuchte ich meinen neuen Kommandeur grundsätzlich vom Einsatz
seiner Geschütze im Häuserkampf abzubringen. Er stimmte mir prinzipiell
zu, hatte aber auch Bedenken bei der Infanterie einen schlechten
Eindruck zu hinterlassen. Man wollte ja nicht als Drückeberger oder
Feigling dastehen und der Infanterie das volle Risiko überlassen, das
man selbst nicht zu tragen vermochte. Auch er hatte schon vergeblich den
Einsatz der schweren Infanteriegeschütze vorgeschlagen. Eigenartiger
Weise neigte die Infanterie dazu, ihre Geschütze wie eine
Artilleriebatterie zu nutzen, statt sich auf Punktziele zu
konzentrieren. Das wäre ihre Hauptaufgabe gewesen, um ihr jeweiliges
Regiment bei Einzelaktionen zu unterstützen. Oft als
„Zigeunerartillerie“ verspottet, wurde die Hauptaufgabe der
Punktzielbekämpfung zu oft verkannt. „Sie müssen ja nicht selbst
hingehen, wenn Sie nicht mögen.“, meinte der Kommandeur schließlich. Ich
verhehlte nicht, dass ich die Gefahr nicht unbedingt suchte, wenn ich
dies mit Anstand vermeiden könne, schon gar nicht, wenn ich keine
Erfolgsaussichten sah. Gewiss würde ich nicht jedes Mal mit selbst dabei
sein müssen, aber gerade bei den ersten Einsätzen als kommandierender
"Neuling" sah ich das als dringend angebracht. Ich wies noch auf die
guten Vorbereitungen für den kommenden Einsatz hin. Ohne es ernst zu
meinen, sagte ich leicht hin: „Herr Hauptmann können sich ja selbst ein
Bild machen. Die Umstände sind diesmal recht günstig, weil das Geschütz
unbemerkt in Stellung gebracht werden kann und dann sehen Sie selbst,
wie wenig bei der ganzen Sache herauskommt.“ Er ging darauf ein und wir
verabredeten einen Treffpunkt. Auf dem Abteilungsgefechtsstand erfuhr
ich noch, dass auch Balthasar zur Artillerieschule versetzt worden war.
Hatte ihn sein Freund Scharenberg nachgezogen? Das konnte die zögerliche
Behandlung meiner Beschwerdesache erklären. Oder passte es schlecht
zusammen, dass von Stumpff erst nach ihm Oberstleutnant geworden war.
Warum war dieser allseits geschätzte aktive Offizier erst so spät
Oberstleutnant geworden? Er hatte doch mehr Format als sein Vorgänger,
dessen Führungsstiel kaum in Erscheinung getreten war. Der Treff mit dem
Kommandeur klappte. Wir erreichten die Garage. Es war ruhig geblieben.
Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen, nur ein flaues Gefühl setzte
sich mir in der Magengegend fest. Der Infanteriestoßtrupp zur Einnahme
des vorgesehenen Hauses stand bereit. Wir trafen die letzten Absprachen
mit dem führenden Leutnant. Da das Tageslicht zur Neige ging, musste es
losgehen. Der erste Schuss wurde sehr sorgfältig und in aller Ruhe
anvisiert. Die Lafettenholme waren bestens fixiert, so dass sie auf dem
Estrich nicht wegrutschen konnten. Es hätte sonst für jeden Schuss
Nachrichterei gegeben. Weil die Gefahr bestand, dass der erste Schuss
Trümmerteile lösen könnte, sollte er mit der langen Leine aus der
Deckung heraus gelöst werden. „So, dann wollen wir mal!“, rief ich.
„Feuer!“ Abschuss - Staub, es schien alles in Ordnung. Das Geschütz
stand fest und gut. Noch einmal einen Blick durchs Rundblickfernrohr
während nachgeladen wurde, dann schossen wir in schneller Schussfolge.
Durch den auffliegenden Dreck und die Einschläge am Zielgebäude war kaum
noch etwas zu sehen. Der Staub biss in Nase und Augen. Nach wenigen
Schüssen reagierte der Russe mit Granatwerferfeuer, das uns wegen der
Betondecke aber kaum gefährdete. Der selbstverursachte Höllenlärm wurde
durch die trockenen harten Granatwerfereinschläge noch verstärkt. „Hören
Sie auf, das bringt nichts.“, bemerkte der Hauptmann. „Warum?“, fragte
der Geschützführer. „So gut wie heute bringen wir die 40 Schuss selten
wieder raus.“ Unser Beschuss fügte dem Zielgebäude wenig Schaden zu.
„Lassen Sie uns das Programm durchziehen, wo wir hier so schön sitzen.“,
meinte auch ich. So geschah es dann auch. Nach dem letzten Schuss
brachten wir die Haubitze aus dem Gebäude in eine andere sichere
Deckung. Der Russe wusste nun, von wo wir geschossen hatten und würde
die Stellung am folgenden Tage vernichten wollen. Schließlich gingen wir
erleichtert und zufrieden zu einem Schluck Wodka und einer Zigarette in
einen Keller in Deckung. Ich rauchte fast nie, empfand keinen Genuss,
auch keine Ablenkung oder Beruhigung dabei. Rauchen war eher ein
Gesellschaftsspiel, das eben dazugehörte. Vielen Soldaten allerdings
bedeutete die Zigarette vor oder nach einem Einsatz sehr viel. Das war
für sie mehr als nur Gewohnheit.
32

Der Kirchturm oberhalb des Bahnhofs
Stalingrad Mitte (Hbf).
Der Angriff auf das Russengebäude war auch
diesmal fehlgeschlagen. Erst später gelang eine plötzliche Überrumpelung
ohne größere Vorbereitung. Für uns war es der letzte Einsatz einer
Haubitze im Häuserkamp Stalingrads. Nun musste unser Geschütz nur noch
zurück in die Feuerstellung beim Badehaus gebracht werden. Nachts sollte
eine Protze mit sechs Pferden das Geschütz abholen. Der Russe durfte
möglichst nichts merken. Im Mannschaftszug ging es zunächst hinter einen
Gebäudekomplex, der es zuließ bei Einsatz von Leuchtmitteln mit der
Protze vorzufahren. Es klappte zunächst alles programmgemäß, aber im
Bahnhofsgelände fuhr das Geschütz in einer Weiche fest. Die Pferde
stolperten zwischen den Gleisen herum. Alle diese Schwierigkeiten ließen
sich schließlich überwinden, doch es kostete wertvolle Zeit. Mit den so
viel unhandlicheren schweren Haubitzen hätte es noch mehr Mühe bereitet.
Die bei der 10. Batterie gemachten Erfahrungen mit der Festfahrerei
kamen mir nun zugute: Ich konnte mich als Experte profilieren.
33

Die B-Stelle unserer 2.Batterie.
Hinter dem Bahngelände ging es steil bergauf
und die Pferde hielten nicht durch. Immer wieder kurze Rast und Keile
hinter die Räder - anfahren - Kanoniere in die Taue. Als es hell wurde,
hatten wir es endlich geschafft. Das Geschütz war zwischen den Gebäuden
auf der Höhe in Sichtdeckung und konnte später in aller Ruhe in die
Feuerstellung gebracht werden. Hätten wir es nicht gleich im ersten
Anlauf geschafft, so hätten wir die Haubitze zurücklassen müssen. Das
Ergebnis wäre, wenigstens Protze, Bespannung und Leute in Sicherheit zu
gebracht zu haben, um es dann in der nächsten Nacht noch einmal zu
versuchen. In der Zwischenzeit hätte aber auch der Russe das Geschütz
entdecken und durch Artilleriebeschuss vernichten können. Man muss eben
auch mal Glück haben.
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Ein Teil des zerstörten Bahnhofsgeländes.
Meine beiden Russenkanonen an der Wolga
erzielten einen schönen Erfolg. Bei hereinbrechender Dunkelheit pflegte
täglich ein mit zwei aufgesetzten T 34 Türmen bestücktes
Flusskanonenboot, mit hoher Geschwindigkeit flussabwärts zu fahren und
unser Ufer mit Schnellfeuer zu belegen. Das bewirkte zwar nicht viel,
war aber ärgerlich. Meine Kanoniere hatten schon mehrfach vergeblich auf
das Boot gefeuert. Diesmal hatten sie sich sorgfältig auf einen Punkt
eingeschossen, den der „Monitor“ immer passierte. Als er nun am
entscheidenden Tag mit dem Bug den anvisierten Punkt erreichte, schossen
unsere beiden Kanonen fast gleichzeitig und trafen. Das beschädigte Boot
hielt auf eine Wolga-Insel zu und war sogar noch imstande zu feuern.
Unsere Kanonen erwiderten unaufhörlich. Ob wir noch einmal trafen, war
unklar geblieben. Das Schiff sank schnell. Wegen der Besonderheit dieses
an sich unbedeutenden Duells erfolgte sogar eine Erwähnung im
Wehrmachtsbericht
vom 10. Oktober 1942. Es gab auch einige Eiserne Kreuze für meine
Küstenartilleristen, die sich natürlich freuten. Als Soldat muss man
auch Glück haben - nur Erfolge zählen. Die Leistungen Glückloser werden
nicht honoriert. Während in unserem Divisionsabschnitt nach und nach
klare Verhältnisse eintraten, weil die letzten noch von Russen
gehaltenen Gebäudekomplexe und Straßenzüge mühsam unter Opfern genommen
wurden, sah es nördlich von uns schlecht aus. Vor allem die großen
Industriewerke, Traktorenwerk „Dserschinski“, Geschützfabrik „Rote
Barrikade“, Hüttenwerk „Roter Oktober“ und andere, wurden hart umkämpft
und doch nicht genommen. Angreifer und Verteidiger hatten sich in
zerstörten Fabrikhallen hoffnungslos ineinander verbissen, wobei die mit
ihren Anlagen vertrauten Russen im Vorteil waren. Selbst die
herbeigeschafften Pionierspezialeinheiten brachten keinen Schwung mehr
in die Sache.
37

Weg Richtung Innenstadt, im Hintergrund ein
russischer Panzer T 34.
Aber Hitler prahlte schon: Stalingrad sei
genommen. Es hätte größerer frischer Verbände bedurft, Stalingrad
vollständig in die Hand zu bekommen. Doch die standen nicht mehr zur
Verfügung. Man hatte sich mächtig übernommen und an der Kaukasusfront
lief es auch nicht nach Plan. Deutschland hatte die Grenzen seiner
Möglichkeiten erreicht und seine Gegner wurden nicht schwächer, sondern
dank der US-Lieferungen und anderer alliierter Hilfe immer stärker. Die
71. Infanterie-Division richtete sich an der Wolga auf Stellungskrieg
ein und bereitete sich auf den Winter vor. Man hoffte auf das nächste
Jahr, auf Ablösung durch frische Truppen. Der Gedanke, dass die
abgekämpfte Division herausgezogen werden müssen, um sich zu
reorganisieren, lag auf der Hand. Wer bis jetzt überlebt hatte, war
guter Dinge und träumte von einem baldigen Frankreich-Sommer. Der
allgemeine Urlaubsbetrieb, der während des Feldzuges geruht hatte, wurde
wieder aufgenommen.
Heimaturlaub
Unvermutet legte man mir nahe, möglichst
bald heim zu fahren, weil man zu Weihnachten in erster Linie an
Familienväter dachte. Mir war das recht. Urlaub darf man im Krieg nicht
ausschlagen. Man muss ihn nehmen, wenn er sich anbietet, denn zu oft
kommt etwas dazwischen. Die Schreiberei mit Ruth, meiner Brieffreundin,
hatte sich positiv entwickelt. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen.
Leider war Ihr Bruder Manfred nach erst ganz kurzem Fronteinsatz am 3.
September 1942 als junger Infanterie-Leutnant bei Rshew gefallen. Ich
musste immer wieder an den Tod meines Geschützführers am 4. September
1942 und an mein eigenes unwahrscheinliches Glück bei dem Granattreffer
an diesem Tag denken. Zufall oder Bestimmung – wer weiß? Dieser Schlag
hatte Ruth und ihre Familie natürlich schwer getroffen. Ruths Briefe
waren einsilbiger und zurückhaltender geworden. Dennoch fing ich an, die
Sache mit Ruth ernst zu nehmen. Den Briefwechsel mit anderen Mädchen,
die ich mir „für alle Fälle“ warm gehalten hatte, ließ ich
vorsichtshalber einschlafen. Ich wollte niemanden verletzen. Am 16.
November fuhr ich mit der Feldküche in meine Protzenstellung westlich
der Stadt zurück. Diese war geschickt in eine enge Balka hineingebaut
worden. Unterstände und Ställe waren in die Steilhänge gegraben. Erst
wenn man in die Balka hinein fuhr, konnte man „Protzendorf“ erkennen. Es
gab für mich wenig Gelegenheit, nach hier her zu kommen. Der Platz des
Batteriechefs war auf der B-Stelle, von der ich in Stalingrad in wenigen
Minuten meine Feuerstellung erreichen konnte. Für den Besuch dieser
Stellung hätte ich aber einen ganzen Tag einkalkulieren müssen, wenn
dort etwas durch mich zu erledigen gewesen wäre. Daher war der Spieß bei
den Protzen und Pferden uneingeschränkter Herrscher im Zusammenwirken
mit dem Futtermeister, welcher ebenfalls recht unabhängig bei seiner
Pferdewirtschaft war. Wenn Stärkemeldungen oder andere Papiere von mir
zu unterzeichnen waren, wurde der Rechnungsführer zur B-Stelle
vorgeschickt, der dann auch meine Anordnungen übermittelte. Selten, dass
der Spieß selbst einmal nach vorn kam. Rechnungsführer war der
Stabsgefreite Eickmann geworden, nachdem sein Vorgänger, ein
Unteroffizier, den ich nicht mehr kennen gelernt hatte, ausgefallen war.
Eickmann war zuvor Richtkanonier gewesen und qualifizierte sich als
kaufmännischer Angestellter für die neue Aufgabe. Er machte seine Sache
gut und war ein zupackender kräftiger Kerl, sympathisch und selbstsicher
im Auftreten. Warum hatte er es als Soldat nicht weiter gebracht? Da
musste wohl mal etwas gewesen sein. Bei meinem Spieß war ich mir mit
meinem Urteil nicht so sicher. Der war Berufssoldat und im Umgang mit
Vorgesetzten aller Art erfahren. Er wusste nur zu genau, wie man einen
jungen Oberleutnant zu nehmen hatte. Der Fehler war, dass ich ihn sofort
durchschaute. Ich hatte meine Erfahrungen als Leutnant unter Kuhlmann
gemacht, dessen fachlich tüchtiger Spieß versucht hatte mich zu
überspielen ohne dass Kuhlmann mir beigestanden hätte. Ich musste früh
lernen, mich allein durchzubeißen und mein Feld zu behaupten. Mit 19-20
Jahren ist das nicht ganz einfach. Offenbar hatte ich meinen Spieß bei
der 2. Batterie schon bei unserem ersten Zusammentreffen schwer
enttäuscht. Ich reagierte auf seine mit Wein und Zigarren übertriebene
Bewirtung am gedeckten Tisch nicht dankbar, sondern untersagte jede
Extrabeköstigung. So bestand ich auf das Einheitsessen für die
Angehörigen der gesamten Batterie. Das betraf auch Kantinenwaren. Die
Leute in der Protzenstellung hatten ohnehin den Vorteil, sich einzeln
oder in kleinen Gruppen zusätzlich Abwechslung in der Verpflegung zu
beschaffen und nach Lust und Laune herumzubrutzeln. Allerdings war in
der Steppe um Stalingrad herum bis auf Melonen nichts zu holen, schon
gar nicht mehr um diese fortgeschrittene Jahreszeit. Am 17. November
ließ ich mich mit einem Panjewagen zum Bahnhof Gumrak fahren, wo die
Feldpost abzuholen war. Es gab kalte Füße in den Lederstiefeln. Der
Boden war schon hart gefroren und in der Nacht fiel der erste wenige
Schnee. Um den Bahnhof Gumrak herum hatte ich im September das Duell
zwischen unserer Flak und den T 34 beobachtet. Das war der Tag, an dem
mir die Protze um die Ohren flog. Die mir dabei zugezogene
Oberarmprellung wäre längst vergessen, wenn ich nicht eine fühlbare
Fettgeschwulst an der betroffenen Stelle meines Arms entdeckt hätte. Ich
befand mich in Gumrak nun in bester Stimmung. Es ging nach Hause und
gewiss auch zu Ruth. Ein aus zwei Personen- und einigen Güterwagen
bestehender Zug vor dem eine Straßenzugmaschine gespannt war stand
bereit. Die Gummiräder der Zugmaschine ersetzte man durch
Eisenbahnräder. Damit konnte sie auch als Lokomotive eingesetzt werden.
Die Abfahrt dauerte und es war lausig kalt. In den Wagons gab es keine
Heizung. Schließlich ging es dann im Zuckeltrab mit häufigem
Zwischenhalt nach Kalatsch am Don. Dort angekommen, wurden wir
registriert, fassten unsere Marschverpflegung und in der Nacht zum 19.
November ging es mit dem Omnibus weiter bis zum Bahnhof Tschir. Unser
Bus fuhr auf der Rollbahn am westlichen Don-Hochufer, wo der Überfall
auf die IV. Abteilung stattgefunden hatte. Vor allem der 11. Batterie
war das schlecht bekommen und Balthasar war an den unnötig hohen
Verlusten nicht unschuldig gewesen. Eine genaue Orientierung war in der
Dunkelheit nicht möglich. Meine Gedanken eilten bereits der Heimat
entgegen. Im Gegensatz zu Kalatsch herrschte auf dem Bahnhof Tschir ein
ziemliches Durcheinander. Es gab keine klaren Auskünfte. „Alle Züge, die
abfahren, gehen nach Westen. Sucht euch einen!“ Auf den Gleisen standen
mehrere Züge, mit gedeckten Güterwagen, einigen Personenwagen und
vorgespannten Dampflokomotiven herum. Selbst die Lokführer kannten die
Reihenfolge ihrer Abfertigung nicht. Die Personenwagen waren alle schon
mit Soldaten überfüllt, die nicht mehr enger zusammenrücken wollten.
Andere standen frierend in den Güterwaggons herum. Schließlich gelang es
mir im ersten abfahrenden Zug einen solchen Stehplatz zu erklimmen. Der
immer wieder anruckende Zug kam langsam in Bewegung. Allmählich begann
es Tag zu werden. Ein scharfer eisiger Wind zwang uns zum herumtrampeln
und Armeschlagen. Die Kälte hielt wach und viele fluchten. Was konnte
man sonst schon tun? Der Zug hielt häufig ohne erkennbaren Grund. Bei
einem der ersten Halte kam ich mit einigen Offizieren ins Gespräch und
fand dadurch Zugang zu einem Personenwagenabteil. Man war schließlich
doch noch enger zusammengerückt und hatte weitere Mitreisende
aufgenommen. So konnten die kalten Abteile mit vermehrter menschlicher
Wärme erträglicher gemacht werden. „Mief ist besser als kalter Ozon.“
war ein bekannter Landserausdruck. Der immer stärker werdende Wind, der
durch jede Ritze drang, brachte den überlangen Zug in einer Kurve zum
Stehen, weil er sich zwischen den Waggons verhakte. Versuche durch Vor-
und Rückwärtsfahrt ihn wieder frei zu bekommen waren vergeblich. Die
Lokomotive schaffte es einfach nicht. Es dauerte Stunden, bis Vorspann
kam. Die nachfolgenden Züge konnten auf der eingleisigen Strecke nicht
an uns vorbei. Als die Fahrt in dem großen Bahnhof Jassinowotaja ein
Ende fand, war ich müde, steif und unlustig. Bis hierher kamen die
regulären Urlauberzüge auf umgenagelter deutscher Spur. Jassinowotaja
war ein Eisenbahnknotenpunkt im weitmaschigen einspurigen Netz der
russischen Eisenbahnen. Der heruntergekommene Bahnhof stammte noch aus
der Zarenzeit, bot keine Unterkunftsmöglichkeit, doch man konnte warme
und kalte Verpflegung empfangen und sich etwas aufwärmen. Jeder
hamsterte etwas, um denen daheim etwas mitbringen zu können. Schließlich
bestand noch die Möglichkeit für eine Nacht in eins der kleinen
nahegelegenen Holzhäuser eingewiesen zu werden. Mit einigen mir fremden
Offizieren machte ich davon Gebrauch. Ich hatte das unüberwindliche
Bedürfnis zu Schlafen. An ein Weiterkommen war ohnehin erst gegen Mittag
des Folgetages zu denken. Das Holzhaus wurde von einer russischen
Großfamilie bewohnt, die zusammenrückte und uns Betten anbot. Sie war
wohl auf „Gäste“ eingerichtet und man schaffte frische Bettwäsche
herbei. Nach Lage der Dinge erschien uns „Hotelgästen“ das Wanzen- und
Läuserisiko aber zu groß. Wir richteten uns lieber in der vom zentralen
Ofen beheizten Kammer auf dem Fußboden ein. Einer fand sogar auf dem
Tisch Platz. Die „Hoteldirektion“ war erfreut einverstanden. Viele
russische Häuser besitzen in der Mitte des Hauses einen durch mehrere
Stockwerke gehenden, großen gemauerten Zentralofen, der mehrere
angrenzende Räume beheizt und auch vom Feuerherd mit gespeist wird. Die
für den Winter eingehängten Doppelfenster ließen sich nicht öffnen.
Zwischen den Scheiben war zur Isolierung Sägemehl eingeschüttet. Viel
Tageslicht konnte da nicht in die Räume fallen. Mit der Hygiene war es
auch so eine Sache. Bei Kälte wurde das Wasser knapp. Die Körper- und
Kleiderwäsche beschränkte man dann auf ein Minimum. Dennoch machten
diese Hausbewohner einen reinlichen Eindruck. Sie hätten nach Lage der
Dinge nicht mehr ausrichten können. Die Leute waren sehr freundlich zu
uns. Aus den von uns überlassenen Naturalien richteten sie eine
schmackhafte Mahlzeit an, die auch für sie reichte. Am meisten war man
an unserem Kommissbrot und den Konserven interessiert. Die Russenkinder
wurden durch Schokolade und Bonbons zutraulich. Als wir am nächsten
Morgen erwachten, schien schon längst die Sonne und brachte vom
reflektierenden Schnee Licht durch die kleinen Fenster in die Kammer.
Nur einer hatte unter Wanzen gelitten - der Mann auf dem Tisch. Das
empfanden wir anderen als gerechten Ausgleich für den besseren Platz.
Nach kurzem Frühstück ging es zurück zum Bahnhof. Mehrere Urlauberzüge
standen nach Norden und Süden bereit. Nach Westen ging es über Kiew und
Kowel nach Deutschland. Der passende Zug war mit Eilzugwagen-Holzklasse
ausgestattet. Jeder Wagon wurde an beiden Enden mit einem Kanonenofen
beheizt, der genügend angenehme Wärme verströmte. Bis dieser Zug am
späten Vormittag abfuhr, hatte er sich ziemlich gefüllt. Es war der 20.
November 1942. Schon am 19. hatten die Russen begonnen, Stalingrad
einzukesseln, wie ich später erfuhr.In unserem Wagon befanden sich auch
einige deutsche Eisenbahner in ihren dunkelblauen Eisenbahneruniformen
mit zusätzlich weißer Armbinde „Deutsche Wehrmacht“. Diese Binde verlieh
ihnen für den Fall einer Gefangennahme kriegsvölkerrechtlich den
Kombattantenstatus. Man hätte sie sonst als Freischärler behandeln
können, ob mit oder ohne Waffe in der Hand. Bis Jassinowotaja war der
Eisenbahnverkehr Sache der deutschen Reichsbahn, weiter zur Front hin
übernahmen die Eisenbahnpioniere. Die Fahrt durch die Schneelandschaft
war langweilig. Rechts und links der Strecke sah ich Fichten oder
Buschhecken gepflanzt, die gegen Schneeverwehungen schützen sollten.
Dadurch wurde aber der Blick in die Gegend verstellt. Selten passierten
wir eine nichtssagende Ortschaft. Oftmals blieb der Zug an
Ausweichstellen stehen, um den Gegenverkehr vorbei zu lassen. An den
Bahnhöfen war erbeutetes Kriegsmaterial zusammen gefahren. Hauptsächlich
waren es Panzer, die deutschen Hüttenwerken zur Metallgewinnung
zugeführt werden sollten. Wir verbrachten die Zeit so gut es ging mit
Gesprächen. Die Eisenbahner waren viel herumgekommen und erzählten gern.
Sie wollten von russischen Großangriffen wissen, die gegen rumänische
und italienische Frontabschnitte vorgetragen würden. Als Verbündete
sollten sie die den Rücken der Stalingrad-Front sichern. Die Sorge war
berechtigt, warum sollte der Russe nicht wie im Vorwinter seinen Vorteil
nutzen und an schwachen Stellen anzugreifen versuchen? Die
Biertischstrategien der Eisenbahner, die ja nichts Konkretes wussten,
interessierten uns nicht. Wir sahen keine Gefahr für Stalingrad,
wünschten nur, dass endlich alle Russen vom Wolga-Westufer vertrieben
werden konnten. Aber die Eisenbahner waren insgesamt skeptisch. Es fehle
doch an allen Ecken und Enden und nur mit Improvisationen sei kein Krieg
zu gewinnen. Lokomotiven fehlten, aber auch die Kohle um sie zu
beheizen. Der Wagonmangel sei unübersehbar. Es gab großen Mangel an
Wartungs- und Reparaturmöglichkeiten, vor allem auch an notwendigen
Ersatzteilen. Am Gleisbau müsste auch mehr getan werden. Die
britisch-amerikanischen Luftangriffe machten sich bemerkbarer, als man
wahrhaben wollte. Ohne neues Material sei bald Schluss mit allen
„Zauberkunststücken“. Wo nichts mehr ist, da helfe der kühnste Befehl
nicht weiter… Sie waren ins Meckern und Miesmachen abgeglitten. Wir
maßen dem Zivilistengejammer keine Bedeutung bei. Die sollten doch
zufrieden sein, dass sie nicht an die Front mussten, wo es um vieles
ungemütlicher war. Andererseits fragten wir uns, warum wir so sehr unter
Munitionsmangel zu leiden hatten und warum man in Stalingrad
herumkleckerte, statt der Würgerei in den Industriewerken mit ein paar
frischen Divisionen ein schnelles Ende zu bereiten. Die Hauptarbeit
hatten wir doch schon geleistet. Man sprach dann lieber über
erfreulicheres. Frankreich – ja, da fuhren die Eisenbahner auch gern
hin. Da ließ es sich immer noch leben. Abwechslung, Unterhaltung und
kleine Geschäftchen gab es dort noch genug. Durch Jugoslawien wurde
nicht sehr gern gefahren. Andauernd passierte etwas. Freischärler und
Banditen verübten Überfälle, sprengten Brücken und Tunnel. Auf die
„ltaker“ (Italiener) sei wenig Verlass. Teilweise kungelten die sogar
mit den „Balkanesen“. Nur die Kroaten sorgten radikal für Ordnung und
würden jeden Widerstand zusammenschießen. Der Begriff „Partisan“ wurde
von uns Deutschen noch wenig benutzt. Wir hielten ihn für eine
heroisierend beschönigende sowjetische Bezeichnung für den verrohenden,
meist völkerrechtswidrigen Bandenkrieg, der oft auch die
Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zog. Wir im Süden hatten damit kaum
etwas zu tun. Im Mittelabschnitt dagegen, sah das ganz anders aus. Die
Eisenbahner begannen schon wieder zu „dramatisieren“. Ja, im Norden bei
den Letten und Esten, da herrsche Ordnung. Da werde erbarmungslos
zugeschlagen, wenn sich Widerstand rege. Die Gespräche wechselten zu den
„Heldentaten“ der Soldaten, zu den „Bombennächten“ der Eisenbahner und
weiter zu lustigeren Dingen – vor allem Weibergeschichten. Hier konnte
ich nichts beisteuern, weil ich noch nichts „handfestes“ erlebt hatte.
Schließlich fuhr der Zug auf einer großen Behelfsbrücke über den Dnjepr
nach Kiew ein. Auf den Bahnsteigen herrschte lebhafter Betrieb. Sehr
viele frierende Italiener liefen in ihren dünnen Mäntelchen herum. Ich
beobachtete auch Offiziere mit allerhand Goldstickerei an
Extrauniformen. Aber alle schienen die Köpfe hängen zu lassen. Wohl
jeder hatte mit dem russischen Kriegsschauplatz nichts mehr im Sinn. Die
Italiener wirkten mit all ihren putzigen Kopfbedeckungen - Federn am Hut
oder Zipfelmützen - unter den Menschen noch farbenfroher und lebhafter.
Wir Deutschen waren dagegen wie selbstverständlich eintönig ohne recht
eine Mine zu verziehen. Bei der Ausfahrt aus Kiew schaute ich aufmerksam
aus dem Fenster, ob sich bei mir Erinnerungen aus dem Herbst 1941
auffrischen ließen. Überraschend führ der Zug durch den Ausflugsort
Budajewka, wo ich bei der 6. Batterie ein paar ruhige Tage verlebt hatte
ehe ich Balthasar kennen lernte. Wäre ich bloß bei der II. Abteilung
geblieben. Major Neumann wollte mich gerne haben und mir wäre mancher
Verdruss erspart geblieben. Der Adjutant Peter Schmidt hatte es gut
gemeint, als er meine Rückkehr zur IV. Abteilung betrieb. War sein
sinnloser Tod am Don nicht auf die Unvernunft Balthasars zurückzuführen?
Aber dieses Schicksal war im schnellebigen Krieg schon längst zur
Vergangenheit geworden. In Kowel lief der Betrieb kasernenmäßig ab:
Entlausen, Verpflegen, großes Fresspaket empfangen, Dank des Führers an
seine Soldaten, Urlaubsschein abstempeln lassen – und ab… Ab jetzt
rechnete der Urlaub bis zum Datum des Stempels mit der Abfahrt vom
Heimatbahnhof. Für die Weiterfahrt gab es einen ordentlichen D-Zug. Die
Wagen wurden von der Lokomotive mit beheizt. Vorn befand sich der
Küchenwagen, in dem man warme Mahlzeiten und Getränke empfangen konnte.
Die Zwangsentlausung in Kowel akzeptierte ich, obwohl ich bisher mit
Läusen noch nichts zu tun hatte. Der Zug war schwach besetzt. Ich teilte
ein 1. Klasse-Abteil mit einem fremden Offizier. Nur mit kurzen
Unterbrechungen hatten wir lang ausgestreckt geschlafen. Schlaf war
nachzuholen und Schlaf auf Vorrat war nützlich. Der wenige Urlaub war
viel zu schade, um verschlafen zu werden. Gerüchte kamen auf und
verdichteten sich: Stalingrad sei von den Russen eingekesselt worden,
nachdem man bei den Rumänen und Italienern durchgebrochen sei. Deren
Fronten hätten sich in Auflösung befunden. Das wurde von mir und anderen
Stalingradurlaubern heftig bestritten, von dem schmalen Streifen entlang
der Wolga im nördlichen Stadtbereich einmal abgesehen, sei Stalingrad
doch fest in deutscher Hand. Die Kampfhandlungen hatten nachgelassen,
würden im Winter wohl ganz einschlafen. Nein, um Stalingrad, machten wir
uns keine Sorgen. Erst im Kreuzungsbahnhof in Eichenberg musste ich
umsteigen und war nach wenigen Kilometern in Göttingen und endlich zu
Hause. Natürlich wurde ich freudig empfangen. Mein Fresspaket und andere
angesparte Naturalien waren hochwillkommen, obwohl noch niemand hungern
musste. Zu Hause war eigentlich alles unverändert. Die Stadt hatte noch
keinerlei Schaden genommen. Lebensmittelmarken und allgemeine
Bewirtschaftungsmaßnahmen waren gewiss lästig, aber unter den gegebenen
Umständen erträglich. Gut organisieren konnten die Nazis. Hätten die
Sieger und ihre sich andienenden deutschen Knechte 1945 wenigstens die
bestehenden, immer noch funktionierenden Verteilungsorganisationen
beibehalten, wäre weniger gehungert und gedarbt worden. Aber da war ja
über Nacht alles, was mit „NS“ in Verbindung gebracht werden könnte
„Pfui“ und musste beseitigt werden. Männer im wehrfähigen Alter sah ich
kaum noch. Viele Göttinger waren gefallen oder verwundet. Der wichtigste
Besuch galt erst einmal meiner Ruth. Sie lebte in Idar-Oberstein. Nur
kurz nach meiner Ankunft fuhr ich los. In Idar-Oberstein angekommen,
suchte ich mir ein Hotelzimmer und nahm telefonische Verbindung über die
Poststelle der Tante von Ruth auf. Ruth wirkte am Telefon kränkelnd. Sie
litte unter starken Halsschmerzen und könne mir leider nicht entgegen
kommen. Omnibusverbindungen bestünden im Kriege nicht und ich müsse mit
der Bahn nach Fischbach zurückfahren. Von dort fahre um 9 Uhr früh ein
Postzustellauto bis Herrstein und den Rest müsse ich schon zu Fuß
bewältigen. Das Postauto konnte höchstens drei Personen mitnehmen. Daher
war es fraglich, ob das überhaupt klappen werde. Eigentlich hatte ich
mir einen stürmischeren Empfang vorgestellt. Ich war enttäuscht. Ruth
war inzwischen schon 19 Jahre alt und hätte doch ihr scheues Verhalten
abgelegt haben können. Nun war ich aber einmal nach Idar-Oberstein
gekommen und würde nicht mehr umkehren. Ich fand das fahrbereite
Postauto neben dem Postamt in Fischbach-Weierbach. Die paar
Mitfahrersitze im gelben Kastenwagen waren bereits mit älteren Frauen
besetzt. Aber Fronturlauber ließ man nicht auf der Straße stehen. Sie
rückten unwillig zusammen und brachten ihre Körbe im Gepäckabteil unter,
wo ich auch meinen Koffer und den Säbel verstaut hatte. Dann begann die
Fahrt über Dörfer, wo die Postsäcke ausgeliefert und andere
entgegengenommen wurden. Das alles dauerte seine Zeit. In Herrstein,
einem mittelalterlich ummauerten Städtchen von der Größe eines Dorfes,
endete die Fahrt. Leider war keine der Frauen vorher ausgestiegen. Bis
zum Schluss ging es eng und unbequem zu. Nachdem ich nach dem weiteren
Weg gefragt hatte, marschierte ich los und holte schon bald die
vorausgegangenen Frauen ein. An denen wollte ich eigentlich schnell
vorbei, doch die waren inzwischen sehr gesprächig geworden und hielten
mich auf. Das waren Hamster-Frauen, welche die Bauernhöfe abklapperten
um Zusatzverpflegung zu erwerben. Vermutlich nicht nur für den
Eigenbedarf, sondern auch für kleine Hamster-Geschäfte. Wer als Offizier
in der Heimat etwas auf sich hielt, hatte die Hände frei und schleppte
keine Gegenstände mit sich herum. Mein Koffer war nicht schwer, doch in
Verbindung mit dem Säbel hinderlich. Noch hatten es die Frauen mit ihren
leeren Körben und Taschen leichter. Wenigstens war es durch die
waldreiche Hundsrücklandschaft ein landschaftlich reizvoller Weg.
Endlich wurde ich „meine“ Damen los, die sich getrennt auf die einzelnen
Höfe stürzten. Der weitere Marsch allein wurde mir dann doch recht
langweilig und der Koffer störte zunehmend. Die Landstraße führte nun
durch eine Fichtenschonung steil bergauf. Gegen den Horizont entdeckte
ich im Straßeneinschnitt eine schlanke weibliche Silhouette, die mir
entgegen kam. Könnte es Ruth sein? Schön wär’s, doch die war ja so
erkältet. Im Entgegengehen kamen wir rasch zusammen und es war
tatsächlich meine Ruth in Begleitung ihres Rauhaardackels. Ruth hatte
ein freundlich verlegendes Lächeln aufgesetzt. Wir gaben uns einen
flüchtigen Kuss. Ich „musste“ nun immer öfter den Koffer von einer in
die andere Hand wechseln, was Gelegenheit zu innigeren und ausdauernden
Küssen bot. Ich fühlte mich glücklich und zufrieden, denn nun konnte es
doch noch ein schöner Urlaub werden. Die schwere Erkältung Ruths musste
sich urplötzlich völlig gebessert haben. Sie plauderte vergnügt und
ungezwungen mit mir, bis wir das große alte Schulhaus in Wickenrodt
erreicht hatten, wo sie lebte. Ruth führte mich schräg über einen
gefährlich zu begehenden Wiesenhang, um der dörflichen Neugier
auszuweichen. Im Hausflur begegnete uns zuerst ihre Mutter. Sie war
schwarz gekleidet und wirkte bedrückt. Ihr einziger Sohn war ja erst vor
kurzem in Russland gefallen. Wie fast alle, hatte es ihn nach dem Abitur
zur „Fahne“ gezogen. Auch durch Offiziere, die vor dem Frankreichfeldzug
im Schulhaus einquartiert gewesen waren und über die Siege im Westen
berichteten, ermuntert. 1942 ging Ruths Bruder als Infanterie-Leutnant
an die Front und fiel bei einem der ersten Einsätze einem
Granatwerferangriff zum Opfer. Um die Trauer nicht noch weiter zu
vertiefen, vermied ich es von Kriegserlebnissen zu erzählen. Das fiel
mir leicht, denn ich wollte meinen Urlaub in friedlicher Atmosphäre
fernab vom Kriegsgeschehen genießen. Meiner Veranlagung folgend
schaltete ich ab und verdrängte die Unliebsamkeiten der letzten Monate
völlig. Die Uniform störte mich dabei durchaus nicht. Ich trug sie gern
und hoffte auch meiner Ruth damit etwas zu imponieren. Wie gern wäre ich
auf einem guten Pferd herumgeritten. Zivilkleidung war im Krieg keine
Empfehlung. Aus meinen Schüleranzügen war ich längst heraus gewachsen.
Seit dem Frühjahr 1938 hatte ich ununterbrochen Uniform getragen. Zwar
ließ ich mir in Belgien und Frankreich schöne Zivilanzüge schneidern,
doch das war dunkle Abendgarderobe. Hellere Stoffe standen nicht mehr
zur Verfügung. Ruths Vater hatte kriegsbedingt in einem großen
Nachbardorf eine mehrklassige Volksschule übertragen bekommen und sich
dort ein Zimmer gemietet, weil der tägliche Weg dorthin zu weit gewesen
wäre. Eine brauchbare Fahrverbindung gab es nicht und sein Privatauto
durfte er im Krieg wegen der Treibstoffbewirtschaftung nicht nutzen.
Natürlich kam der Vater an diesem Tag nachmittags nach Hause, um mich zu
besichtigen. Er war ein untersetzter, freundlich-lebhafter Mann. Beim
Erzählen erfuhr ich, dass Wickenrodt evangelisch sei. Bundenbach
dagegen, wo er nun eingesetzt war, sei katholisch und der
Konfessionsunterschied habe ihm dort als Schulleiter doch einige
Anfangsschwierigkeiten bereitet. Auch gegenüber dem Nationalsozialismus
gäbe es bei den Katholiken eine gewisse Reserviertheit. Er selbst sei,
wie fast alle Lehrer, Parteimitglied geworden und mit Ämtern überhäuft -
Ortsgruppenleiter in Wickenrodt im Range eines Blockwarts. Nach 1945 hat
man ihn eingesperrt und kräftig büßen lassen um ihn schließlich als
„Mitläufer“ später wieder zu entlassen. Nein, ein böser Nazi war er nie
gewesen. Er hatte sogar seine Organistentätigkeit in der Kirche nicht
eingestellt, obwohl ihm die NSDAP das mehrfach nahegelegt hatte. Politik
wurde allgemein auf dem Land nicht so heiß gegessen, wenn nicht
irgendein verrückter Hund dazwischen war oder Nachbarschaftsstreitereien
politisch erledigt werden sollten. Immerhin wusste ich nun, dass Ruth
evangelisch war und Konfession uns nichts anhaben konnte Das Schulhaus
war gut beheizt. Ich wurde über Gebühr gut bekocht, was in dieser Zeit
nur noch auf dem Lande möglich war. Nicht nur um mir neuen Appetit zu
holen, wanderte ich mit Ruth durch den reizvollen herben Hunsrück - wir
konnten unbeaufsichtigt herumschmusen und redeten über
Belanglosigkeiten. In der Stube waren wir selten miteinander allein, wie
wir es gern gewesen wären. Ruths Mutter werkelte fast ununterbrochen in
der angrenzenden Küche herum und steckte immer wieder den Kopf durch die
Tür, um etwas zu fragen oder zu sagen. Die zahlreichen Räume im
Obergeschoß über dem Schulsaal blieben ungeheizt. Bei dieser Sachlage
konnten wir uns zwei arg Verliebten nur recht begrenzt näher kommen.
Über eine fast pausenlose Schnäbelei kamen wir kaum hinaus. Dennoch
genügte auch das, um sich menschlich so weit nahe zu kommen, um über
Verlobung und Heirat zu sprechen. Das passte so recht in meine
Gedankenwelt. Mein unfreiwillig zölibatäres Leben ließe sich auch durch
eine frühe Heirat beenden. Damals entsprach das den idealisierten
Vorstellungen von der jungfräulichen Braut, die sich dem hehren Jüngling
aufbewahrte und vermählte. Allerdings erwartete man, dass der Mann seine
Familie ernähren könne und das war außerhalb des Besitzadels erst nach
entsprechender Ausbildung möglich. Der Oberleutnant ging da nur so
gerade - eben mehr schlecht als recht. Daher sah man Männern voreheliche
Erfahrungen nach. Ruth erschien mir in jeder Hinsicht liebens- und
begehrenswert, sowohl in Bezug auf das langhaarig-dunkle,
rassig-liebliche Erscheinungsbild, als auch durch ihr zärtlich-sprödes
Wesen. Natürlich zierte sich meine Ruth, als ich das Wort „Verlobung“
aussprach. Ruths Vater bat ich umständlich ungeschickt und steif um die
Hand seiner Tochter, als er am Wochenende wieder zur Familie nach
Wickenrodt kam. Ich hatte schließlich keine konkreten Vorstellungen, wie
man sich in solch einer Lebenslage gewandt zu verhalten hatte. So
marschierte ich, wie es meine Art war, ohne Umwege auf mein Ziel zu, um
der Ungewissheit ein Ende zu machen. Ruths Vater antwortete eher
unbeholfen: „Ja, was soll ich dazu sagen. Die Ruth ist ja mit ihren
knapp 19 Jahren noch recht jung. Ich will mich auch noch mit meiner Frau
bereden. Was sagt Ruth selbst denn dazu?“ Wir haben noch anderes
unwesentliches miteinander beredet, als er Ruth herbei rief. Auch ihre
Mutter äußerte einiges. Ruth tat noch einmal recht scheu, bekam einen
roten Kopf und sagte dann aber ohne Ausflüchte einfach „Ja“. Damit war
diese Sache erledigt. Im engsten Familienkreis wurde anschließend
festlich getafelt, obwohl eine wesentliche Steigerung der Gastlichkeit
gar nicht mehr möglich war. Ich wollte jetzt möglichst schnell wieder
nach Hause, um meinen Eltern die frisch erworbene Braut vorzuführen. Den
Anreisetag und die Verlobung teilte ich ihnen vorab schon mit. Die
restlichen Tage im Hause Böckel gingen schnell dahin. Im Hunsrück fiel
der erste Schnee. Für den Weg zum Bahnhof in Kirn hatte Vater Böckel den
ihm verpflichteten Dorfbürgermeister bewogen, das junge Paar mit seiner
leichten Pferdekutsche zu fahren. Es wurde eine romantische Fahrt durch
eingeschneite waldreiche Täler. Der Zug nach Frankfurt war überfüllt.
Nur noch in der 1. Klasse fand sich Platz. Wir setzten uns unbefangen
nieder. Die Mitreisenden mussten wohl die frische Verliebtheit bemerkt
haben. Es entwickelten sich wohlwollend neckende Gespräche, die Ruth
nicht behagten. Bei der Fahrkartenkontrolle wäre sie am liebsten im
Boden versunken. Während der Schaffner mich ungeschoren ließ, musste ich
für Ruth die Differenz zur 2. Klasse nachzahlen. Bis Frankfurt war das
nicht teuer. Dort hofften wir ein 2. Klasse-Abteil zu finden. Ruth
fühlte sich immer noch als ertappte Diebin. In Frankfurt gab es einen
längeren Zwischenaufenthalt, den ich nicht im Wartesaal verbringen
wollte. Auf Urlaubsmarken spendierte ich in einem der großen Hotels am
Bahnhofsvorplatz ein standesgemäßes Essen. Später entdeckte ich in dem
von Frankfurt abgehenden Schnellzug ein zur 2. Klasse degradiertes 1.
Klasse-Abteil. Der entsprechende Aufkleber hing recht locker an der
Glasschiebetür und ich legte ihn einfach ins Gepäcknetz. So wurde unser
Abteil gemieden, denn 1. Klasse-Reisende gab es noch selten. Da dieser
Zug nur mäßig besetzt war, gab es genügend Platz. Unser Abteil gehörte
uns ganz allein. Nur während der Halte, wenn Aus- und Zusteiger durch
die Gänge kamen benahmen wir uns sittsam. Von der vorbei fliegenden
Landschaft hatten wir wenig gesehen. Bei ständiger Knutscherei verging
die Fahrt viel zu schnell. In Göttingen holte uns meine Schwester ab.
Sie war einige Tage zuvor 18 Jahre alt geworden und ich stellte erstaunt
fest, dass sie sich von der kleinen Schwester zur Frau entwickelt hatte.
Sie tat nett bemüht, hatte sogar ein paar Blümchen dabei. Meine Eltern
waren mit meiner Wahl zufrieden und gaben sich herzlich. Vorsorglich
hatte mein Vater durch eine Detektei noch Erkundigungen über die Familie
Böckel eingezogen. Das Ergebnis beruhigte ihn. Davon erfuhren wir aber
erst später, rein zufällig. Vielleicht hätten meine Eltern wegen der
ungewissen Zeiten lieber gesehen, dass ich mich erst später gebunden
hätte, doch sie gönnten mir die Verliebtheit. Außerdem mochten sie Ruth.
Inzwischen sprach man offen von der russischen Überlegenheit in der
Winterkriegsführung und der Großoffensive, die zur Einschließung unserer
Armee in Stalingrad geführt habe. Die Hörfunknachrichten berichteten
fast nur noch über Stalingrad. Ich mochte das alles gar nicht glauben.
Bei meiner Abfahrt schien die Lage doch stabil zu sein. Meine Eltern
aber blieben beunruhigt. Was sollte man nun glauben? Ich ließ mir die
gute Stimmung mit Ruth nicht verderben. Ich würde ja sehen was wirklich
los war, wenn ich wieder in die Stalingrader Gegend komme. Also
verschwendete ich keinen unnötigen Gedanken an den Krieg, lebte in den
Tag hinein und war glücklicher als jemals zuvor. Verlobungsanzeigen
wurden in der damals üblichen steifen Formulierung in Auftrag gegeben
und kriegsbedingt auf Dünndruckpapier versandt. Dabei gab mein Vater zu
bedenken, ob es für die Verlobung nicht einer Heiratsgenehmigung durch
meinen Regimentskommandeur bedurft hätte. Hiermit hatte er recht. Doch
mir war das nicht bekannt und so meinte ich unbekümmert: „Verlobungen
kommen plötzlich wie ein Gewitter, da ist nichts vorauszuberechnen und
ich kann doch keine Genehmigung einholen, solange noch gar keine
Klarheit besteht. Bis zur Heirat ist noch genug Zeit und so eine
Heiratserlaubnis kann wohl kaum versagt werden, wenn der Schwiegervater
Beamter und Parteifunktionär ist. Was will man da noch mehr?“ Vergeblich
hatte ich gehofft, wir beiden könnten im Elternhaus intimer miteinander
werden - es wurde auch hier nichts. Meine Mutter schlich ständig um uns
herum, sei es aus Absicht, aus Neugier oder nur aus mütterlicher
Fürsorge. So kamen wir auch jetzt über Geschmuse nicht hinaus. Damals
konnten Eltern noch wegen Kuppelei bestraft werden, wenn sie die schon
Verlobten zusammen schlafen ließen. So streng waren die Gesetzte, wenn
sie auch kaum einer eingehalten hat. Ich besuchte in Göttingen noch zwei
Schulkameraden im Hilfslazarett. Dem einen waren als Infanteristen im
Winter 41/42 beide Hacken erfroren und mehrfach nachamputiert worden.
Für ihn war der Krieg aus. Ich war noch längst nicht so weit, dass ich
ihn hätte beneiden können. Wir waren ja noch so jung und konnten uns ein
Behindertendasein kaum vorstellen. Der andere hatte eine schwere
Halsverletzung und war bereits auf dem Wege völliger Genesung. Da der
Ersatztruppenteil meines Regiments in der Göttinger Artilleriekaserne
lag, machte ich auch dort einen Besuch. Ich traf eine ganze Reihe alter
Mitstreiter, die als genesene Verwundete ihren nächsten Fronteinsatz
erwarteten, aber auch andere, die nicht wieder einsatzfähig wurden. Sie
taten nun als Ausbilder Dienst. Mein einarmig gewordener Funker machte
als Unteroffizier seine Sache gut und menschlich. Er schien recht
beliebt zu sein und mein vor Kiew schwer an der Schulter verwundeter
Kommandeur Major Futtig freute sich über meinen Besuch. Meine
Leidensgeschichte unter seinem Nachfolger behielt ich für mich. Kuhlmann
war auch da. Er fühlte sich wohl und hatte genug vom Krieg, während es
Futtig wieder an die Front drängte. Kuhlmann verpasste den Rekruten eine
harte Ausbildung und machte abends die Lokale der Göttinger Innenstadt
unsicher. Er hatte den Krieg genossen und fühlte sich in der Uniform
wohl und bedeutend. In seiner subalternen Beamtenlaufbahn hatte er sich
stets deklassiert gefühlt. Der Mann war schon ein rechter Kommisskopp,
und das nicht nur im schlechten Sinn. Natürlich musste ich mit ihm
Saufen gehen und wir waren die besten Freunde. Ich habe beide nie wieder
gesehen. Futtig fiel zu Kriegsende noch in Polen. Kuhlmann war
verstorben bevor ich aus der Gefangenschaft zurückkehrte. Mein Freund
Klaus Peters war nach einer leichten Verwundung auf Genesungsurlaub. Wie
glücklich fühlte ich mich ihm gegenüber mit meiner schönen Braut prahlen
zu können. Ich habe auch Klaus nicht wieder gesehen. Er ist 1944 als
Infanterie-Leutnant im Osten gefallen. Seine Eltern waren schon recht
alt und hatten nur das eine Kind aus später Ehe. Die Mutter konnte
seinen Tod nicht überwunden und war nur noch bedingt ansprechbar. Leider
ging auch dieser für mich letzte Urlaub mit den schönsten Tagen meines
bisherigen Lebens viel zu schnell zu Ende. Im nächsten Jahr könnten wir
dann vielleicht heiraten. Viele junge Frontoffiziere heirateten sehr
früh und hinterließen junge Witwen, mit und ohne Kinder. Zwischen uns
gab es am Bahnhof einen zärtlichen Abschied und Ruth entschwand …für
Jahre. Mir sollten für lange Zeit nur noch Erinnerungen an sie bleiben.
Rückflug in den Kessel
Am nächsten Tag musste ich über Hannover
wieder an die Front fahren. Die Nacht verbrachte ich bei meinen
Großeltern in Hannover. Mehrmals gab es Fliegeralarm, der mich aber
nicht aus dem warmen Bett bringen konnte. Unsere Flak schoss
unaufhörlich. Hannover wurde schon häufig von englischen Bombern
angegriffen und es hatte vor allem in den Industriegegenden Tote und
Sachschäden gegeben. Die Terrorangriffe erfolgten aber erst in späterer
Zeit. Meine Großmutter war ängstlich. Mein Großvater lag mit Anämie im
Krankenhaus und führte das auf die unzureichende Ernährung zurück. Er
war ein großer korpulenter Mann, der stets gut und überreichlich
gegessen hatte. Das ging nun in den Städten kaum mehr. Er freute sich
sehr über meinen Besuch und hätte nur all zu gern die Ruth kennen
gelernt. Dieses Zusammentreffen sollte das letzte Mal gewesen sein.
Meinen Großvater habe ich nie wieder gesehen. Er kam noch einmal kurz
auf die Beine und starb im Sommer 1943, als ich nach dem Ende von
Stalingrad als vermisst galt und man zu Hause mit meinem Tode rechnete.
Mein Großvater hätte so gern noch einen Familien-Stammhalter erlebt. lm
Zug nach Berlin saß ich mit einem noch jugendlich wirkenden
Generalstabsoberstleutnant in einem Abteil. Als er von meiner Fahrt
zurück nach Stalingrad hörte, sagte er: „Da kommen Sie jetzt nicht mehr
trockenen Fußes hin. Stalingrad ist eingekesselt und es sieht gar nicht
gut aus.“ Das war die erste verbindliche Auskunft. Presse und Rundfunk
redeten noch immer um die Tatsachen herum. Sie schwafelten von schweren
heroischen Kämpfen. „Wissen Sie was, Sie fahren besser zu Ihrem
Ersatztruppenteil und melden sich dort. Entsprechende Befehle gibt es
schon für alle Angehörigen der in Stalingrad eingeschlossenen Verbände.“
Ich entgegnete: „Wie kann ich das mit meinem Urlaubsschein, als einzige
Legitimation? Die werfen mir noch Entfernung von der Truppe vor, wenn
ich da aufkreuze. Ich halte mich lieber an meine Papiere und sehe zu wie
weit ich komme. Vielleicht ist Stalingrad bis dahin schon wieder frei
und zugänglich.“ „Das wohl kaum“, entgegnete der Oberstleutnant. „Es hat
wenig Sinn, wenn Sie weiter fahren. Sie können sich auf mich berufen,
wenn Sie hier bleiben wollen.“ Er machte schon Anstalten ein paar Zeilen
zu Papier zu bringen, unterließ es aber, als ich zu erkennen gab, lieber
den Versuch zu wagen, meine Batterie zu erreichen. Wir unterhielten uns
dann noch über andere Dinge. Immer wieder ließ der Generalstäbler seine
Skepsis bezüglich der deutschen Siegeschancen durchblicken. „Bleiben Sie
gesund und viel Glück, Sie werden es nötig haben.“ Damit verabschiedete
sich der Oberstleutnant als er in Berlin den Zug verließ. Bis Stalino
verlief meine Reise noch problemlos. Dort wurden die Stalingrad-Urlauber
bei kasernenmäßiger Unterkunft für einige Tage festgehalten. Stalino war
eine langweilige gesichtslose Stadt, doch es gab Kino, Musik,
Fronttheater und Truppenbetreuungsabende mit viel aufgesetzter
Einerlei-Fröhlichkeit. „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, auf
jeden Dezember folgt wieder ein Mai.“ lautete ein Modeschlager, der
unentwegt gedudelt wurde. Es schien doch alles zu passen. Jetzt war
trüber Dezember und für Mai, spätestens Sommer 1943 hoffte ich auf die
Herauslösung meiner Division und einer schönen erholsamen Zeit im
Westen. Ich dachte an Ruth und ans Heiraten. Die ukrainischen
Theaterleute in Charkow hatten mir mit ihrem Improvisationstalent im
Frühjahr besser gefallen. Die jetzt rein deutsche Truppenbetreuung
benutzte zu sehr den Holzhammer, um Fröhlichkeit zu produzieren. In
Stalino liefen viele Italiener herum. Bilder von Mussolini und dem
kleinwüchsigen König waren an vielen Stellen aufgehängt. Bilder von
Hitler sah ich nicht. Kurz vor Weihnachten hatte man mich bis zur
Frontleitstelle Rostow weitergeleitet. Im Gedränge der Auskunfts- und
Einweisungsstellen traf ich zufällig den Gefreiten Bode meiner Batterie,
der auch aus dem Urlaub kam. Wir wollten versuchen, zusammenzubleiben.
In Rostow kamen wir in der Unterkunft der Führerreserve der Heeresgruppe
„Stalingrad-Don“ verhältnismäßig gut unter. Rostow wirkte als Stadt
irgendwie großzügig, zwar heruntergekommen und schäbig, aber mit breiten
Straßenzügen und Häuserfassaden aus dem 19. Jahrhundert hatte sie doch
ein Gesicht. Trotz der ungünstigen Jahreszeit waren Russen dabei, an
einer großen zentral gelegenen Kirche die Spuren der bolschewistischen
Religionsfeindschaft zu beseitigen. Das war beeindruckend. Trotz Lenin
und Stalin saß die russische Gläubigkeit tiefer als erwartet. Obwohl die
Bevölkerung einer Ungewissen Zukunft entgegen ging, bemühte man sich um
die Wiederaufnahme von Gottesdiensten. Waren die aufgezwungenen
Auswirkungen von Ideologien und autoritärem System nur abwaschbare
Tünche? Würden die Auswüchse des deutschen Nazi-Regimes eines Tages
genau so verschwinden? In Adolf Hitler sahen wir keinen Verbrecher, denn
wir hofften auf ein geeintes starkes, ideologiefreies Deutschland, das
seinen Platz unter den Völkern würde behaupten können. In Rostow gab es
ähnlich wie in Charkow ein russisches Theater, das sich bemühte Opern
und Operetten zu spielen. Ich ging gern dort hin. Wenn ich auch
sprachlich nichts verstand, fühlte ich mich dort wohler, als bei dem
geschmacklosen Getue deutscher Conferenciers unserer Truppenbetreuung.
Das Soldatenheim wurde von Rot-Kreuz-Schwestern anheimelnd geführt. Sie
erzeugten ohne diese Aufdringlichkeit eine wohltuende, friedliche
weihnachtliche Stimmung, die über die Wartezeit und Ungewissheit hinweg
half. Mit materiellem Einsatz konnten sie dabei nicht dienen, denn es
gab nichts was sie hätten verteilen können. Täglich fanden Appelle
statt. Dabei wurden zunächst Infanterie-, Pionier- und
Panzerjägeroffiziere ausgewählt, die sich bei frisch zusammengestellten
Alarmeinheiten melden sollten. Diese Einheiten wurden aus
zurückkehrenden Urlaubern und Genesenen gebildet. An der Front sah es
schlecht aus. Die Russen drängten auf den Raum Rostow zu. Rumänische und
italienische Verbände waren zusammengebrochen und flohen. Die
Luftwaffen-Felddivisionen hielten nicht viel besser. Das war überhaupt
so eine Idee vom Reichsmarschall Hermann Göring: mangels Sprit und
Flugzeugen und des allgemeinen Bedarfs an der Front, wurden jüngere
kampffähige Männer der Luftwaffe, vor allem das Bodenpersonal
durchkämmt. Göring weigerte sich aber zuerst, seine Männer an das Heer
abzugeben. Nach und nach wurden diese später den eingespielten Verbänden
als Ersatz zugeführt. Er wollte eigene Divisionen, so wie Himmlers
Waffen-SS, und dem Heer zeigen wie gesiegt wird. Diese unerfahrenen
Truppen mussten versagen. Ihre oft hohen Verluste waren sinnlos. Nur die
Flak-Batterien, mit ihren Waffen vertraut, besaßen meist schon
Erfahrungen im Bodenkampf und hatten sich beispielsweise bei der
Panzerbekämpfung bewährt. Sie waren erfolgreich, verbluteten aber, wenn
sie den Rückzug ihrer untauglichen Divisionen decken und auffangen
mussten. Ich konnte mir ausrechnen, dass ich auch als Artillerist in
absehbarer Zeit bei einem der überstürzt zusammen gewürfelten Haufen
landen würde, um auf Himmelfahrtskommando zu gehen. Dabei konnte man nur
ohne Aussicht auf Erfolg versagen und verlieren. Vielleicht würde man
gar als Versager zur Rechenschaft gezogen werden. Ich sehnte mich nach
der warmen Geborgenheit des vertrauten Haufens - nach meiner Batterie.
Die Möglichkeit eines Zusammenbruchs der Kesselverteidigung zog ich
nicht in Betracht. Auch hier in Rostow rechnete keiner der jüngeren
Offiziere mit dem Untergang der im Kessel eingeschlossenen Divisionen.
Zu viele bewährte Kampftruppen lagen in und um Stalingrad. Ich glaubte
an einen Sommer ohne Fronteinsatz und vielleicht einer Hochzeit als
Hauptmann. Den Krieg wollte ich dann noch einmal „genießen“, denn ich
hatte angenehme Erinnerungen an das damals sommerliche Frankreich oder
Belgien. Unrealistisch kreisten meine Gedanken um Ruth, der ich fast
täglich glühende Briefe schrieb, soweit das meine Nüchternheit zuließ.
Inzwischen machte ich mich nun vorstellig, weil ich dringend im Kessel
benötigt werde und der einzige Offizier meiner Batterie sei. Man gab
meinem Drängen nach und übergab mir noch Kurierpost für das
Armee-Oberkommando in Gumrak. So bekam ich einen Flugschein und durfte
sogar Bode als meinen Burschen mitnehmen, der nicht allein zurückbleiben
wollte. Bei sachlicher Beurteilung der Lage, hätte man keinen
zusätzlichen Fresser in den Kessel einfliegen dürfen. Menschen gab es
dort genug, die Mangel an Lebensmitteln und Munition durchzustehen
hatten. Bei den höheren Stäben außerhalb des Kessels fehlte es an
Überblick und klaren Konzepten. Man wurstelte dahin, zuckte die Achseln,
steckte mit bunten Nadeln den sich ständig verschlechternden
Frontverlauf auf der Karte ab und verschob Divisionen auf dem Papier:
„…sammelt im Raum XY... tritt aus Linie RQ an …bereinigt den Einbruch
bei R… verteidigt am Bahndamm HC… erwartet dort weitere Befehle... –
alles Papier ohne Wert. Damals wusste ich nicht, dass der
Generalfeldmarschall von Manstein die Heeresgruppe befehligte, der
Paulus mit der 6. Armee im Kessel unterstand. Nach dem Krieg hat sich
Manstein in seinem Buch „Verlorene Siege“ als überragenden Feldherrn
präsentiert, der er in mancher Hinsicht wohl auch war, zu Stalingrad
aber ist er recht einsilbig geblieben. Da hat er versucht, Paulus Schuld
und Versagen zuzuschieben, obwohl er sich als dessen Vorgesetzter um
Weisungen gedrückt hatte. Er will Paulus den Ausbruch „nahegelegt“
haben. Warum hat er ihn nicht befohlen? Hitler war der Ausbruch nicht
abzutrotzen. Der wollte nicht klein beigeben, denn er hatte Stalingrad
ja schon im September „erobert“ und die Kontrolle über die Wolga
erreicht. Paulus kuschte vor Hitler. Er war ohnehin kein Draufgängertyp.
Manstein, der über den besseren Gesamtüberblick verfügte, hätte handeln
müssen. Von einem Feldmarschall musste man ein höheres Maß an
Zivilcourage erwarten, gerade dann, wenn es um das Überleben oder
Verrecken seiner Soldaten geht. Hitler war das Überleben seiner Soldaten
nicht das wichtigste, wenn es um seine Visionen ging. Göring war an der
Stalingradkatastrophe im höchsten Maße mit schuldig. Er konnte seine
Luftversorgungszusage nicht einhalten und wusste das, schon ehe er sie
abgab. Er war zum oberflächlichen Schwätzer und Schwadroneur verkommen,
von Rauschgiften abhängig. Als ich mit meinem Bode auf dem Flugplatz in
Rostow in eine JU 52 kletterte, kam ich an einer großen festgezurrten
Kiste vorbei, die mit einem Pappschild „Weihnachtsgruß an den
Kommandanten der Festung Stalingrad, Generaloberst Paulus“ versehen war.
Diese Anschrift kam mir abgeschmackt und unpassend vor. Unter Festung
verstehe ich eine bewusst errichtete Abwehrstellung, mit befestigten
Schutzbauten und geeigneten Abwehrwaffen sowie ausreichenden
Versorgungsmitteln. Das alles war Stalingrad eben nicht. Stalingrad
insgesamt gesehen, war eine Katastrophe, die es so gut und schnell wie
möglich zu bereinigen galt. Nicht zu Unrecht vermutete ich Alkohol und
Fressalien für die „Stabshengste“ in dieser Kiste. Wenn die Truppe im
Kessel hungerte, waren solch freundlich gemeinten Zuwendungen
unangebracht, ja stillos und provozierend. Ich fieberte nun neugierig
den nächsten Stunden entgegen. Die JU flog niedrig über die weiten
Schneeflächen, stieg langsam höher, sackte wie ein Fahrstuhl wieder nach
unten und wiederholte diesen Vorgang immer wieder. Schön war das Gefühl
in der Magengegend nicht. Ich war das Fliegen nicht gewohnt. Links
voraus sah man jetzt brennende Schuppen, Häuser und Qualmwolken von
Treibstoffbränden. „Tazinskaja“, sagte einer. „Nachschubflughafen für
Stalingrad. Wir Flieger sagen nur Tazi. Den haben Russen neulich zur Sau
gemacht, mit ihren gottverdammten Panzern - den ganzen Flugplatz und
alles was drauf stand. Aber jetzt sind wir wieder da.“ Kurz darauf
landeten wir in Morosowskaja, einem anderen Feldflugplatz für
Stalingrad. Auch hier befanden sich die Russen in unmittelbarer Nähe.
Man hörte Artilleriefeuer und das kurze Bellen von Panzerkanonen. Auf
dem Rollfeld wurden Bomber und Jäger mit Bomben ausgestattet. Einen
hörte ich sagen: „Die drehen nur eine Lokalrunde und laden gleich da
hinten bei den Iwans ab.“ Man konnte die Bombendetonationen in der Ferne
im Dunst wahrnehmen. Es herrschte Nervosität. Erst einmal wollten wir
uns aufwärmen, etwas zu Essen finden und uns erkundigen wie man nach
Stalingrad kommt. Da man in Morosowskaja an die Aufgabe des Flugplatzes
dachte, konnte Bekleidung und Verpflegung nach Belieben empfangen
werden. Bode und ich holten uns warme Schneekombinationen, Filzstiefel
und Seesäcke, die wir mit Brot und Konserven befüllt als Mitbringsel für
die Batterie vorgesehen hatten. Bode meinte: „Da werden sich die
Kameraden aber mächtig freuen, was wir ihnen da alles mitbringen.“ Im
Kessel sollte große Hungersnot herrschen. Es standen einige HE
111-Bomber älterer Bauart herum, die mit Versorgungsgütern für den
Kessel beladen wurden. Unsere beiden Seesäcke wurden verstaut. Bode fand
noch in der Bugkanzel einen Platz. Ich musste mir in der nächsten
Maschine einen Ort zwischen Kisten und Säcken suchen. Kurz nach dem
Abheben flog meine Maschine eine scharfe Linkskurve. „Falsch getrimmt,
da muss nachgesehen werden, so kann man nicht fliegen!“ Schon waren wir
wieder in Morosowskaja gelandet. Das Warten in der Kantine mit Schnaps
wärmte mich etwas durch. Auf dem Flugplatz herrschte rege
Betriebsamkeit. Neben zweimotorigen Bombern und wenigen JU waren viele
einmotorige Flugzeuge, Jäger und Stukas im Einsatz. Sie bekämpften den
nahen Gegner pausenlos mit Bomben. Am Flugplatzrand waren erschreckend
viel beschädigte, nicht mehr einsatzfähige Transportflugzeuge
abgestellt. Piloten erzählten, von über 60 Maschinen flögen gerade noch
7. Ich hörte: „Das haut nicht hin mit der Versorgung. Wir kriegen die
Maschinen bei dieser Kälte nicht warm und zum Laufen. Dauernd ist etwas
im Arsch. Ganz Tazinskaja ist im Arsch und hier kommen die Russen auch
noch her. Na dann gute Nacht Kameraden.“ Mein zweiter Start misslang
ebenfalls. „Jetzt ist die Mühle endlich auch im Arsch, die alte
Kutsche.“ Und wieder musste ich warten. Ich ging in den Ort um mich
umzuschauen. Dort hielt gerade eine Kolonne der frisch aus Frankreich
gekommenen 6. Panzerdivision. Ich musste an Charkow zurückdenken, wo man
uns im Frühjahr beim Ausladen beneidet hatte. „Die können ja vor Kraft
kaum gehen, alles funkelnagelneu, die Panzer, die Fahrzeuge und auch die
Leute. Alles wintermäßig ausgestattet und weiß angestrichen. Das macht
ja einen hervorragenden Eindruck.“, dachte ich mir. Parolen begannen
herumzuschwirren: „Wir sind schon durch zum Kessel. Der Russe läuft
wieder - wie in alten Tagen...“. Ich wollte es gerne glauben, nachdem
ich diese so selbstsichere Truppe gesehen hatte. Mein Vertrauen, dass
die Krise wieder gemeistert werden könnte wuchs. Die mir unbekannte
Wahrheit sah anders aus, hätte mich deprimiert und möglicherweise davon
abgehalten, weitere Einflugversuche zu unternehmen. Die 6.
Panzerdivision mit ihrer vorzüglichen Ausstattung wähnte ich mit der
Heeresgruppe Hoth im Angriff auf den Stalingrader Kessel. Dabei war sie
als „Feuerwehr“ abgezogen worden, um den Durchbruch der Russen Richtung
Rostow im Raum Tazinskaja abzuriegeln. Am Tschir wurde verzweifelt
gekämpft. Die Heeresgruppe des Generalobersten Hoth hatte mit ihren zu
schwachen Panzerverbänden versucht, den Einschließungsring um Stalingrad
von Süden her aufzubrechen. Bis auf 48 Kilometer kam sie an den Kessel
heran. Dann reichten die Kräfte nicht mehr aus. Die letzte Gelegenheit
für die 6. Armee zum Ausbruch war also bereits vertan, ihr Untergang
schon Gewissheit. Hoths Panzer wurden an der gefährdeten Südwestfront
dringender gebraucht. Stalingrad war also schon vor Weihnachten
aufgegeben. Meine damalige Zuversicht mag blauäugig erscheinen, war sie
vielleicht auch, aber ich bin nun einmal Optimist. Diese
Grundeinstellung hat mir eigentlich stets das Leben erleichtert. So ließ
sich das Grauen im Kriege, die Furcht vor Verwundung und Tod eher
ertragen - auch in den schrecklichen Jahren sowjetischer
Kriegsgefangenschaft. Am frühen Nachmittag der nächste Abflugversuch:
diesmal wurde im Verband von drei HE 111 innerhalb der Wolkendecke der
Don erreicht. Über dem Strom riss die Wolkendecke aber auf und schon
waren russische Jäger da. „Zurück in die Wolken, zurück nach
Morosowskaja, Feierabend für heute.“, hieß es. An diesem Tag fand sich
aber für mich doch noch eine Fluggelegenheit: ein größerer Verband neuer
HE 111, die Verpflegungsbomben unter dem Rumpf hatten waren zum
Nachtanken und zur Aufnahme zusätzlicher Versorgungsgüter gelandet.
Inzwischen war es dunkel geworden. Der Flug schien diesmal reibungslos
zu verlaufen. Ich sah den Don, hier und da ein paar Leuchtkugeln
aufsteigen. Der Frontverlauf beider Seiten war anhand der
Artillerieabschüsse auszumachen. Dann sank das Flugzeug schnell,
Landebefeuerung leuchtete auf und, das ausgefahrene Fahrwerk bekam
Bodenberührung. Doch die Maschine stieg wieder, wurde schneller und zog
Kurven. Zwischen den Kisten krieche ich zum Piloten vor. „Ich denke wir
sind schon da?“ „Besser, dass wir nicht mehr da sind.“ lautete die
Antwort. Ein Russe hatte sich zwischen die sinkenden HE 111 gemogelt und
Bomben auf die Landebahn geworfen. In einem der im hartgefrorenen Boden
aufgerissenen kleinen Krater war unsere HE mit dem linken Rad
hineingeraten und der Pilot hatte die Maschine gerade noch wieder
hochziehen können. Der Schaden wurde bald lokalisiert: Das Rad war mit
dem gesamten Fahrwerk abgerissen. Es hieß zunächst „Bauchlandung“, aber
nicht hier im Kessel auf dem Flugplatz Pitomnik, sondern zurück nach
Morosowskaja. Wer weiß wie man hier sonst wieder weg käme. Das andere
Rad, beziehungsweise die Radaufhängung hatte sich verklemmt. Es ließ
sich nicht per Handbetrieb wieder einfahren. „Große Scheiße, mit einem
Bein wird das nichts, am besten aussteigen!“ rief der Pilot. Der
Absprung mit dem Fallschirm wurde erörtert. Doch davon hielt ich als
Passagier gar nichts, zumal es auch gar keinen Fallschirm für mich gab.
Ich fing an zu verzweifeln. Sollte ich allein weiterfliegen oder mich
besser gleich erschießen? Doch aufs Abspringen waren die Flieger auch
nicht so scharf, hatten sie es doch noch nie ausprobiert. Vielleicht
käme man auf der vereisten Landebahn auch so herunter. Ich wurde wieder
zuversichtlicher. Als das Flugzeug in Morosowskaja aufsetzte, empfand
ich das als normale Landung und hielt die getroffenen Vorsichtsmaßnahmen
für überzogen: „Bodenwanne räumen, Stahlhelm aufsetzen, mit dem Rücken
gegen die Außenwand stemmen!“ Doch dann kippte die Maschine nach links
ab. Es krachte und splitterte. Ich fühlte mich benommen, verspürte dann
aber einen kalten Luftzug und Rufe von draußen: „Alles munter?
Rauskommen!“ Die linke Tragfläche samt Motor war abgerissen, die
Bodenwanne zerquetscht und die Vollsichtkanzel zersplittert. Als ich
meine Siebensachen, vor allem die Kurierpost beigesucht hatte, kletterte
ich ins Freie. Feuerwehr und Krankenwagen waren herangeeilt, aber wir
waren alle unverletzt und das Flugzeug war nicht in Brand geraten. Wie
erwartet, war die HE auf dem Eis dahingeschlittert und schließlich
zerbrochen liegen geblieben. Auf einer weichen Wiese wäre das nicht so
gut abgegangen. „Und wieder einmal Schwein gehabt.“, obwohl das
Überleben infrage gestanden hatte, dachte ich mir. Eigentlich wunderte
ich mich, dass mich die Tagesereignisse nicht stärker erregt hatten. Ich
war nur noch müde und schlief am Tisch eines Nebenraumes der
Flugleitungsbaracke. Allerdings hatte ich zuvor noch üppig gespeist und
reichlich Alkohol zu mir genommen - alles beste Qualität. Die Flieger
waren gastfreundlich. „Wenn es bei uns knapp wird, ist es aus mit dem
Krieg. Ja, bei unseren guten Verbindungen wären Hunger und Durst wohl
das letzte...“ In der Nacht schreckte ich auf. Unruhe, Rufen,
Türenschlagen, Motorenlärm: „Morosowskaja wird geräumt! Die Russen
kommen!“ Draußen war große Hektik. Alles wurde auf Lastwagen verladen
und zusammengerafft. Ich packte einige Edelfressalien nebst
französischem Cognac zusammen und erkundige mich nach dem nächsten
Stalingradflug. "Stalingrad? - Hören Sie bloß auf mit Ihrem Stalingrad,
da fliegt von hier keiner mehr hin. Wir haben jetzt wahrhaftig ganz
andere Sorgen. Was wollen Sie denn bloß immer in Stalingrad?“ hieß es.
„Und was mache ich jetzt?“ fragte ich kleinlaut. „Entweder auf einen LKW
rauf oder ein Flugzeug suchen, aber Flugzeuge sind für Flieger da und da
werden Sie kaum Glück haben.“ Ein anderer ruft mir zu: “Wohin? Wohin ist
doch jetzt egal. Mal sehen, nur weg von hier, oder wollen Sie für die
Russen Begrüßungskommando machen?“ Ich lief unschlüssig herum, kannte ja
niemanden und fand noch keinen klaren Gedanken. Da meldete sich ein
Pilot auf der Flugleitung ab. „Haben Sie einen Platz für mich?“ fragte
ich, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten. „Wenn es Ihnen nicht zu
kühl wird, ich fliege eine Klemm und die ist offen.“ Die Klemm war ein
kleiner, zweisitziger offener Tiefdecker, ein Sport- und Übungsflugzeug,
das hier wohl Kurierzwecken gedient hatte. Mir war alles recht. Mit
meinem Fressack kletterte ich in den Sitz vor dem Flugzeugführer und
igelte mich ein. Es sollte nach Rostow gehen, denn von da kam er her. Im
frühen Tageslicht ging es los. Nur noch zwei HE 111 standen startbereit.
Die ersten russischen Granaten schlugen im weiter entfernten
Flugplatzgelände ein. Die Klemm flog sehr niedrig über die Steppe,
Balkas und Dörfchen hinweg, die im Schnee versunken waren. Die Kälte
machte mir kaum zu schaffen. Ich war mit der Winterausrüstung und den
Filzstiefeln gut versorgt. Die Pelzmütze mit Ohrenschützern wärmte
meinen Kopf den ich hinter dem Windschutz tief eingezogen hatte. Wir
landeten in Rostow - Rostow zum zweiten Mal. Und wo geht es nach
Stalingrad? Versorgung wurde jetzt über Salsk geflogen. Salsk? Wo ist
das? Wie kommt man dahin? Eine unmoderne JU 86, von Diesel- auf
Benzinmotor umgebaut, flog Ersatzteile nach Salsk und nahm mich mit. Wo
mag Bode abgeblieben sein? Ob er Stalingrad erreicht hatte und ob er
schon wieder bei der Batterie war? Lag die Batterie überhaupt noch in
ihrer alten Stellung? In Salsk waren JU 52-Transportverbände
stationiert. Auf die alte „Tante JU“ schien noch der meiste Verlass zu
sein. Man fing an, meine Reisepapiere in Zweifel zu ziehen. Ich kam fast
in Verdacht, auf eigene Faust hinter der Front herumzureisen, statt mich
zu meinem Haufen oder einer Alarmeinheit zu begeben. Nur die Kurierpost
machte meine Ausführungen glaubhafter. Als ich in einer großen Baracke
Platz zum Aufwärmen gefunden hatte, erklärte sich ein Pilot bereit, mich
nach Pitomnik mitzunehmen. Ein größerer JU 52-Verband sollte bei
Dunkelheit den Kesselflugplatz anfliegen. In einer JU, die mit
Treibstoffässern beladen war, fand ich hinter der Führerkabine neben dem
Bordfunker Platz. Ich kauerte auf meinem Fressack der auch die
Kurierpost enthielt, die aber vermutlich jede Aktualität verloren hatte.
Unter uns lag der Don. Wieder konnte man die Frontlinie erkennen. Dann
erfolgte der Landeanflug auf dem Flugplatz Pitomnik. Der Funker wurde
nervös und wies auf ein kleines Loch am Rumpf der Maschine:
„Zwei-Zentimeter-Flak, eigene, Scheiße - große Scheiße!“, rief er dem
Piloten zu. „Noch einen durch die Benzinfässer, dann aber Mahlzeit!“
antwortete der. „Was soll das?“ fragte ich und erwartete keine Antwort.
Dann war die Maschine am Boden ausgerollt. Wieder hatte sich ein Russe
dazwischen gemogelt und Bomben auf die Landebahn abgeworfen. Unsere Flak
feuerte dazwischen. Aber schließlich war alles gut gegangen. Ich war
"glücklich gelandet" - im Kessel von Stalingrad! Das Flugzeug rollte an
den Rand des Flugplatzes. Die Ladeluke wurde geöffnet und die Besatzung
warf die Benzinfässer selbst aus der Maschine. Ich kletterte über die
Tragfläche heraus, verabschiedete mich und sah mich um. Da kamen
zerlumpte, schlecht versorgte Verwundete über das Rollfeld auf uns zu.
Sie wollten in das Flugzeug um ausgeflogen zu werden. Die Flieger hatten
die Luke aber bereits wieder geschlossen und ließen die drei Motoren an.
Schreierei, Kommandos, laute Worte: „Wir lassen uns hier doch nicht zur
Sau machen!“, war das letzte, was ich von den Fliegern hörte. Die
Motoren heulten auf und das Flugzeug rollte an. Es startete wohl auf
eigene Faust, ohne eine Einweisung oder Kontakt mit der Flugleitung
gehabt zu haben. Die Maschine verschwand in der Dunkelheit und die
schreienden Verwundeten, die zum Teil versucht hatten sich an das
Flugzeug zu klammern, verschwanden wieder. Nur einige krochen auf allen
Vieren im Schnee, fluchten und winselten. Sie waren schmutzig,
verwahrlost, stoppelbärtig, abgemagert, mit blutigen Verbänden wie
Zigeuner vermummt und undiszipliniert. Weit und breit waren keine
Ordnungskräfte oder Sanitäter zu erblicken. Solch ein Chaos hatte ich
bei unserer Wehrmacht noch nie erlebt. So mußte Napoleons vernichtete
Armee an der Beresina ausgesehen haben. Grauen mischte sich bei mir mit
Mitleid. Ich fühlte mich verlassen und dachte: „Wärst du besser draußen
geblieben, statt unbedingt hier her zu wollen. Wäre ich bloß zum
Ersatztruppenteil nach Göttingen gegangen, dort hätte ich in Ruhe
abwarten können.“ So irrte ich herum und fand schließlich den mit einer
Zeltbahn verhängten Zugang zu einem niedrigen Erdbunker. Flak-Feuer
blitzte auf und Bomben detonierten. Ich kroch in diesen Bunker und ein
fast unerträglicher Mief nach Mensch und Essensresten füllte den Raum.
Feindseligkeit schlug mir entgegen. „Woher? Wohin?“ Man lachte mich aus,
als ich meine Reiseabenteuer schilderte. „Da waren Sie aber ganz schön
bekloppt, Herr Oberleutnant. Jetzt sitzen Sie mit uns jedenfalls ganz
schön in der Scheiße - bis an die Ohren in der Scheiße. Rückfahrkarten
gibt es nur noch auf Krankenschein - Kopf ab, Bein ab oder so was und
auch dann muss man erst noch einen Flieger finden, in den man hinein
kommt!“, meinte ein älterer Stabsgefreiter. Er sagte das keinesfalls
aufsässig, sondern eher bemitleidend. Meine Urlaubsreise schien ein
apokalyptisches Ende zu nehmen. So schön sie begonnen hatte, so
dramatisch fand sie in diesem Chaos nun ihr Ende. In Pitomnik herrschte
jedenfalls ein undiszipliniertes Durcheinander. Es fehlten klare
Weisungen. Überall geisterten vegetierende, verwahrloste, in ihrem Elend
im Stich gelassene Verwundete herum. „Und unsere Panzer, sind die
durch?“ Es war die Nacht auf den 29. Dezember 1942. die Panzer waren
bereits Tage vorher stecken geblieben. Der Angriff von Süden, der den
Kessel aufbrechen sollte, war zu schwach angesetzt gewesen. Auch hier
hatten die eigenen Kräfte nicht für das gesteckte Ziel ausgereicht.
Dennoch rechneten die desillusionierten Erdbunkerleute nicht mit dem
Zusammenbruch der Armee. Draußen fielen immer wieder Bomben. Mir drängte
sich wieder die Frage auf, ob es klug von mir gewesen war, nach
Stalingrad zurückzukehren. Ich versuchte die trüben Gedanken zu
verdrängen. Mein Vertrauen in deutsche Führungskunst war noch nicht
erschüttert. Übermüdet schlief ich bald ein.
Das Ende in der „Badehausfestung“
Als ich am nächsten Morgen erwachte,
strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel über die Steppe. Der
Schnee blendete. Aus dem dunklen Bunker herauskommend, konnte ich die
Augen kaum öffnen. Der Spuk der Nacht war vorbei. Deutsche Jäger waren
in der Luft und kein Russe weit und breit zu sehen. Ich verabschiedete
mich von meinen Gastgebern und fand bald zur Flugleitung. Dort lief
geordneter Betrieb. Mit Rücksicht auf meine Kurierpost wurde ein PKW
herbeordert, der mich zum Gefechtsstand der 6. Armee bei Gumrak brachte.
Das war eine in Erdhänge eingebaute Blockhaussiedlung. Es herrschte
reger Bürobetrieb, allgemeine Geschäftigkeit - Hackenknallen mit
zackigem Grüßen. Die Post wurde entgegengenommen. Sie war wohl nicht von
sonderlicher Bedeutung. Mir wurde erklärt zu warten. Aus verschiedenen
Telefongesprächen, die ich teilweise mithörte, war zu entnehmen, dass es
um die Aufstellung von Alarmeinheiten ginge, die aus dem Boden gestampft
werden sollten. Man hielt auch nach Offizieren Ausschau, die als Führer
eingeteilt werden konnten. Das war nicht der Sinn meiner Reise gewesen,
denn das hätte ich in Charkow unter besseren Voraussetzungen auch haben
können. Ich machte mich unauffällig aus dem Staub. Im überheizten Bunker
herrschte stickige Luft. Draußen lag Schnee und es waren 20 Grad unter
Null. Auf einer Fahrspur im Schnee wanderte ich mit meinem Sack auf der
Schulter in Richtung Fliegerschule. Die Gegend war mir nicht unbekannt,
wenn sie auch im Schnee etwas befremdlich wirkte.
38

Am Stadtrand Stalingrads.
Ein vorbeifahrender LKW nahm mich mit. In
der Nähe des Badehauses konnte ich abspringen. Ich war auf ziemlich
demselben Weg zurückgekommen, den ich am 14. September bei meinem ersten
Gang in die Stadt genommen hatte. Die Feuerstellung meiner 2. Batterie
war unverändert an der alten Stelle verblieben. Als ich im
Badehauskeller auftauchte gab es natürlich ein großes Hallo. Bode war
schon vor Tagen eingetroffen. Er hatte es mit dem ersten Flug geschafft
und erklärt, Wenn der „Alte“ nicht kommt, dann kommt er überhaupt nicht
mehr. Dann ist er futsch, dann hat es ihn erwischt. Wir waren ja zur
gleichen Zeit abgeflogen. Bode war etliche Jahre älter als ich mit
meinen 22 Jahren und ich war doch bei den Männern schon der „Alte“.
39

Platz in der Nähe unserer Feuerstellung.
Der Inhalt der Seesäcke, den Bode
mitgebracht hatte, war längst verteilt und verspeist worden. Es war
einigermaßen gerecht bei der Verteilung zugegangen, aber man hatte auch
gleich meine privaten Sachen, die ich während meines Urlaubs bei der
Batterie belassen hatte, mit verteilt. Das war nun etwas peinlich. Als
„Widerauferstandener“ erhielt ich aber alles über meinen Burschen
zurück. Ich brachte Verständnis dafür auf. Im Krieg denkt und lebt man
praktisch. Jedenfalls war ich irgendwie froh, wieder in „vertrauten
Umgebung“ zu sein.
40

Ausgebrannte Holzhäuser.
Ich begab mich dann bald zur B-Stelle und
nahm den Fressack mit, weil die B-Stelle von den Bode-Säcken nichts
abbekommen hatte. Das wurde folgendermaßen begründet: Die B-Stelle
beanspruchte während meiner Abwesenheit Sonderverpflegung, weil sie
angeblich gefährlicher lebe. In der Protzenstellung esse man ohnehin
reichlicher, denkt sowieso erst einmal an sich, ehe etwas vor gebracht
wird. Ich hielt diese Erläuterung zunächst für übertrieben gefärbt und
äußerte mich nicht, denn ich wollte erst mal hören, was die anderen
sagten. Tatsächlich hatte mein Vertreter, ein Leutnant einer anderen
Batterie, für die B-Stelle und damit auch für sich reichlichere
Zuteilungen angeordnet. Bei normalem Einsatz wurden die Leute der
B-Stellen mehr als die Feuerstellungen oder gar der Tross gefordert.
Hier in Stalingrad lebte aber meine B-Stelle am angenehmsten. Wenn man
Unzufriedenheit vermeiden wollte, durfte man bei der ohnehin viel zu
knappen Versorgungslage keine Unterschiede machen. Obwohl ich vom Urlaub
gut herausgefuttert war, litt auch ich schon am ersten Kesseltag unter
den Hungerrationen. Die Batterie schmachtete schon über einen Monat.
Meinen Fressack hielt ich zurück, denn ich wollte in aller Ruhe über
seine Verwendung entscheiden. Als erstes befahl ich absolute
Gleichbehandlung aller Batterieangehörigen. Sogleich hatte ich mich bei
meinem Abteilungskommandeur zurück gemeldet und auch dem
Regimentskommandeur meine Verlobung angezeigt. So freudig auch mein
Wiederauftauchen begrüßt wurde, so verwundert gab sich der
Regimentskommandeur, weil ich nicht um Heiratserlaubnis ersucht hatte.
Ich musste bei ihm antreten. „Also doch.“, dachte ich und war verlegen.
Ich entschuldigte mich mit dem Hinweis, dass ich nie zu diesem Thema
belehrt worden bin und auch vor Urlaubsantritt noch nicht wusste, dass
es zu einer Verlobung kommen würde. Es handele sich um einen spontanen
Entschluss bei passend erscheinender Gelegenheit. Oberst von Stumpff, er
war inzwischen befördert worden, wurde freundlicher und ließ sich von
mir erzählen. Ich berichtete dabei auch über die Familienverhältnisse
meiner Braut und versprach unverzüglich um Heiratserlaubnis zu ersuchen,
wenn es denn soweit wäre. Damit bezweckte ich, das Versäumnis wieder gut
zu machen. Mein Kommandeur meinte aber: „Nun ist es einmal geschehen und
wer weiß, ob sie überhaupt noch eine Heiratserlaubnis benötigen. So, wie
sich die Dinge hier entwickeln, ist es recht fraglich, ob Sie Ihre Braut
wiedersehen werden. Meinen herzlichen Glückwunsch haben Sie hiermit.“ Es
folgte ein tiefer Schluck aus der Flasche und ich musste Bilder von Ruth
herumzeigen. Sie wurde begutachtet. „Einen guten Geschmack hat der Mann
ja, das muss ihm der Neid lassen…“ Ich fühlte mich erleichtert. Doch es
bedrückte mich, dass der alte Haudegen von Regimentskommandeur entgegen
seiner ganzen Art einen so pessimistischen Eindruck machte. Ein knapper
Anschiss wäre mir fast lieber gewesen. In der Protzenstellung herrschten
unbefriedigende Zustände. Der Spieß hatte sich und seine engsten Kumpane
zu reichlich selbst versorgt. Das gab schon viel böses Blut. Ich hatte
den Spieß von Anfang an nicht geschätzt und unterhielt mich mit meinem
Abteilungskommandeur. Das war jetzt ein älterer, akademisch gebildeter
Reservist. Wir beschlossen einen Personalaustausch. Ich bekam für meinen
Spieß einen Oberfunkmeister der Stabsbatterie, der mit dem Adjutanten
aneinander geraten war. Mit diesem Mann machte ich einen guten Fang. Der
aufrecht-mutige neue Spieß war bereits mit dem EK I ausgezeichnet und
hielt die Batterie in der noch auf uns zukommenden schwersten Zeit gut
zusammen. Alle paar Tage ließ er sich auf der B-Stelle sehen, ging auch
zu den beiden vorgezogenen 7,62 cm-Kanonen an der Wolga und besuchte
gelegentlich sogar den vorgeschobenen Beobachter in seiner
Treppenhausruine. Das gehörte eigentlich nicht zu seinen Aufgaben. Als
ich ihn daraufhin ansprach, meinte er: „Das mag zwar wenig Sinn haben,
aber es ist gut, wenn der Spieß sich auch mal vorne sehen lässt. Dann
wissen die, dass ich den Schwanz nicht so schnell einziehe.“ An der
Wolga-Front der Division blieb die Lage ruhig. Vielleicht waren die
Umstände im Kessel doch besser als mancher dachte, wenn nur die
Verpflegung reichlicher gewesen wäre. Bis auf ein paar Gelbsuchtfälle,
die auf dem Luftweg den Kessel verließen, hatte die Batterie während
meiner Abwesenheit keine Ausfälle zu beklagen. Dass es der Batterie so
gut ging, hatte sie der Tatsache zu verdanken, dass sie weit in den
Osten der Stadt vorgezogen, in sicheren Stellungen lag. Der größte Teil
der Pferde und Fahrer befand sich gar nicht im Kessel und war weit
westlich des Don in Pferdeerholungsräumen, weil man sich auf einen
Stellungskrieg eingerichtet hatte. Im vorherigen Winter gab es schlechte
Erfahrungen mit den Pferden. Diesmal wurden sie zur Versorgung anständig
auf Kolchosen untergebracht.
Am westlichen Stadtrand in der Balka gab es
nur noch einen kleinen Troß mit Spieß, Feldküche und Rechnungsführer.
Die wenigen Pferde waren da um Munition oder Geschütze fahren zu können.
Obwohl ich so gut genährt aus dem Urlaub
gekommen war, litt nun auch ich wie alle anderen, unter dem täglich
quälenden Hunger. Meinen Freßsack hatte ich für eine improvisierte
Sylvesterfeier freigegeben und auf die ganze Batterie aufteilen lassen.
Das war eine Geste die gut ankam, obwohl der einzelne nicht viel davon
hatte. Wer irgendwie abkömmlich war kam in den großen freundlichen
Keller der B-Stelle und feierte ein wenig mit. Kaffee und Alkohol waren
noch ausreichend vorhanden. Wir hofften auf ein besseres Jahr 1943.
41
42

Der Eingang zu einem Erdbunker unserer
Batterie.
Wegen des Zeitunterschiedes sandten die
Russen punkt 23.00 Uhr deutscher Zeit ein heftiges „Feuerwerk“
anlässlich der Jahreswende herüber. Vorsorglich schickte ich die
Kanoniere in die Feuerstellung zurück. Es hätte ja mehr dahinter stecken
können. Wegen unseres Munitionsmangels antworteten wir nicht, doch der
Abend war uns verdorben. Am 1. Januar gab der Abteilungskommandeur mit
Schnaps einen Empfang für seine Offiziere. Andere Dinge waren zur
kleinen Feierlichkeit nicht mehr vorhanden. Ich war der einzige von
unserer Batterie. Der Leutnant hatte inzwischen andere Aufgaben
erhalten. Es wurde ein fürchterliches Besäufnis. Am Ende war auch ich
voll wie eine „Strandhaubitze.“ An und für sich war ich einer, der
relativ viel Alkohol vertrug ohne Auswüchse erkennen zu lassen. Dem
Adjutanten nahm ich allerdings übel, dass er mich gegen Morgen von
meinen Leuten mit dem Handschlitten abholen ließ. Die hatten mich bisher
noch nie in solch einem Zustand erlebt. Mein anfänglicher Zorn schlug
aber bald in Trauer um, denn am nächsten Abend schlug eine Bombe in das
Treppenhaus der Schnapsfabrik ein. Im Keller befand sich der
Abteilungsstab. Der katholische Divisionsgeistliche war dort zu Besuch
geladen. Man war gerade dabei ihn wieder zu verabschieden, als das
Schicksal über ihn, dem Kommandeur und dem Adjutanten hereinbrach. Alle
drei kamen zu Tode. Bereits am nächsten Tag übernahm ein junger
Hauptmann von der motorisierten Artillerie einer fremden Division die
Abteilung. Als ich nach einer ersten Besprechung mit ihm zu meiner
B-Stelle zurück ging, erwischte mich ein Granatsplitter am Arm. Halb
hoffte ich schon auf einen Heimatschuss, doch es war nur ein Kratzer.
Einen Arzt brauchte ich dafür nicht aufsuchen.
43

Die Feuerstellung der 2.Batterie.
Der neue Hauptmann war ein netter,
unbefangener und liebenswürdiger Kerl, aber vielleicht in seiner Art
auch etwas naiv. Als er mich bald einmal in meiner eleganten B-Stelle
besuchte, klagte er über Hunger und bat mich ungeniert um ein kleines
Frühstück zum Wodka, den ich ihm angeboten hatte. Ich war verblüfft: Was
in normalen Zeiten selbstverständlich war, konnte im hungernden Kessel
doch nicht mehr gelten. Aus meiner Schlafecke brachte ich ihm ein Stück
Wurst und eine Scheibe Brot und ließ meinen Burschen anrichten. Viel war
es ja nicht. Der Hauptmann aß schnell, mit gutem Appetit und fragte beim
nächsten Prosit, warum ich denn nicht mithalte. „Wenn Sie meine
Tagesration essen, kann ich sie nicht essen.“, war meine undiplomatische
Antwort. Es gab keine Gästeportionen mehr bei der 2. Batterie. Auch aus
diplomatischen Gründen hätte ich nicht mit frühstücken können. Meine
Leute hielten die Ohren gespitzt. Unser neuer Kommandeur war nicht
ungeschickt. Er ließ sich nichts anmerken und aß zu Ende. Wir redeten
noch über dieses und jenes und schließlich verabschiedete er sich
freundlich. Mit dem abendlichen Melder ließ er mir ein
Verpflegungspäckchen zukommen, das in etwa seinem Verzehr am Morgen
entsprach. Seitdem frühstückte er auch nicht mehr bei den anderen
Batterien, die ihn zuvor gastfreundlicher aufgenommen hatten. Mein
Verhältnis zu ihm hatte unter dieser Frühstücksgeschichte nicht
gelitten. Er war ein feiner Kerl, der sich wohl nichts dabei gedacht
hatte. Die Feldpost funktionierte noch. Ich schrieb viel und häufig und
erhielt auch noch einige Briefe aus der Heimat. Plötzlich kam Bewegung
in die Batterie. Es war noch einmal von Ausbruch die Rede. Zur Zeit der
ersten Ausbruchpläne gleich zu Beginn der Einkesselung, war ich ja sogar
noch im Urlaub gewesen. Da mochte es noch gute Aussichten auf ein
Gelingen gegeben haben, aber nun waren wir müde, hungrig, abgekämpft,
ohne Treibstoff und Munition. Dennoch gab es allgemeinen Auftrieb. Drei
Skoda- und zwei Tatra Dreiachser Lkws kamen in meine Batterie. Diese
Fahrzeuge waren für unsere Geschütze, die Munition, die Küche und das
notwendigste Nachrichtengerät bestimmt. Wir erhielten sogar ein paar
Granaten an Nachschub, so dass jetzt zirka 40 Schuss pro Geschütz
verfügbar wurden. Weitere Munitionsversorgung erwarteten wir nicht mehr.
160 Schuss, das war besser als nichts und doch war damit Stalingrad
nicht mehr zu erobern. Folgende Faustregel gab es: bei sicheren
Schießgrundlagen seien 120 Schuss erforderlich eine feindliche Batterie
niederzuhalten, das Doppelte um sie niederzukämpfen und ihr Material zu
zerstören. Rechtfertigten die paar Granaten noch die Aufrechterhaltung
unserer 2. Batterie? Die 1. hatte man schon zum Infanterie-Einsatz
herangezogen und an der Wolgafront eingesetzt. Die Infanterie von dort
wurde abgezogen und in der Steppe einsetzt. Das Löcherstopfen hatte
schon seit einiger Zeit begonnen, doch das Vermischen
unterschiedlichster Waffenverbände schwächte unseren Widerstand mehr als
es ihn zu kräftigen vermochte. Wenn es heikel wird, braucht man den
vertrauten Nachbarn, auf den man sich verlassen kann. Die angestrengten
Vorbereitungen zum Ausbruch ließen neue Hoffnungen aufkeimen. Unser
Korps-Kommandeur General von Seidlitz galt als Seele des
Ausbruchgedankens, während Paulus zauderte. Manche meinten sogar, Paulus
befände sich gar nicht mehr im Kessel. Zu sehen war er jedenfalls nicht.
Für den Fall eines Ausbruchs, rechnete jeder mit hohen Verlusten. Das
war aber immer noch besser, als elend in diesem Kessel zu verrecken. Ein
Ausbruch würde noch einmal ungeahnte Kräfte freisetzen und ohne jede
Rücksicht vorangetrieben werden. Theoretisch müsste er gelingen. Doch
ehe es los ging, wurde unsere Division nach allen entbehrlich
erscheinenden Leuten durchkämmt, um sie an der westlichen Kesselfront in
der Steppe, wo der Russe immer wieder Einbrüche erzielte, als
Lückenfüller einzusetzen. Unsere 71. Division bot sich für den
„Heldenklau“ an, denn sie lag an der Wolgafront in ruhiger sicherer
Stellung und wies noch keinerlei Auflösungserscheinungen auf. Sogar
verpflegungsmäßig ging es uns etwas besser als den anderen. Wir hatten
Anteil am von uns eroberten Getreidesilo und konnten als bespannter
Haufen gelegentlich ein Pferd schlachten, das sich nicht mehr auf den
Beinen halten konnte. Alle Abiturienten wurden als potentielle
Reserveoffiziersanwärter herausgezogen, aber deswegen nicht etwa
ausgeflogen. Der Sinn dieses Vorhabens blieb fraglich.
Führungsqualitäten wurden nicht geprüft. Die, die unersetzbare
Funktionen ausübten, blieben bei ihrem angestammten Haufen. Schließlich
verschwanden die Abiturienten im Durcheinander. Was sollte das alles,
zum Ausbruch benötigten wir jeden einsatzfähigen Mann? Die
improvisierten Alarmeinheiten mussten mit LKWs in die Steppe zum Einsatz
gefahren werden. Marschieren war für die ausgemergelten Leute zu
strapaziös und hätte zu lange gedauert. So verschwanden auch meine LKWs
und kamen nie wieder zurück, wohl aber die überlebenden abgestellten
Leute. Sie waren verstört und halb erfroren. Obwohl man die
infanteristisch unerfahrenen Männer weder ausgebildet noch vernünftig
eingewiesen hatte, fuhr man sie in die Steppe. Schon hierbei war der
erste LKW Opfer eines russischen Schlachtfliegers geworden. Den nächsten
holte sich ein Panzer. Eine gedachte Linie im Schnee war die Front. Sie
wurde zur HKL (Hauptkampflinie) erklärt, auf die sich die weiter vorn
eingesetzte Infanterie kämpfend langsam zurückziehen sollte. Die meisten
Soldaten verfügten über keine Winterbekleidung. Sie trugen ihre dünnen
Mäntel und Lederstiefel, in denen erbarmungslos die Gliedmaßen erfroren.
Es wurden Deckungslöcher in den Schnee gegraben, wo es ging wurden Iglus
zum Aufwärmen gebaut. Von ausgebauten Stellungen mit sicheren
Unterständen konnte keine Rede sein. Hilflose, meist unerfahrene
Vorgesetzte, waren improvisiert zugeteilt worden. Man kannte einander
nicht, hatte keine zwischenmenschlichen Beziehungen und keine Zuversicht
mehr. Als sich die im unmittelbaren Einsatz befindlichen
Infanterie-Verbände vor den nur mit Panzerunterstützung angreifenden
Russen kämpfend zurückzogen, fanden sie in der neuen befohlenen HKL
keinerlei Vorkehrungen, die ein Halten ermöglicht hätten. Sobald die
vorstürmenden Rotarmisten ernsteren Widerstand verspürten, fuhren ihre T
34 heran und schossen die unzureichend gesicherten Widerstandsnester
zusammen. Wer liegen blieb wurde mit den Panzerketten zermalmt.
Zerfetzte menschliche Leiber färbten so den Schnee der russischen Steppe
stellenweise blutrot. Aber auch wenn der Russe nicht angriff, lösten
sich unsere Linien wie von selbst auf. Die Männer waren hungrig,
ungeschützt und ohne Munition der klirrenden Kälte und den übermächtigen
Russen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die Moral war am Ende. Mir
liegen einige Meldungen unseres Infanterie-Regiments 211 vor, die sich
allerdings auf den September 1942 beziehen, als sich die 71.
Infanterie-Division noch im Angriff auf Stalingrad befand: Der Stab des
2. Bataillons besaß zu diesem Zeitpunkt noch 2 Offiziere, 4
Unteroffiziere und 13 Soldaten. Die 5. Kompanie besaß nur noch einen
Unteroffizier mit 9 Soldaten, die 6. Kompanie 1 Offizier, 2
Unteroffiziere und 10 Soldaten. Die 7. Kompanie hatte 4 Unteroffiziere
und 10 Soldaten, die 8. Kompanie 5 Unteroffiziere und 35 Soldaten. Im
Januar 1943 sah es so dramatisch aus, dass ein Zählen nicht mehr lohnte.
Grund dieser Auflösung und Verluste der neu zusammen gewürfelten Haufen
war auch die Tatsache, dass die Verbände derart durcheinander geraten
waren, dass sich ihre Befehls- und Versorgungswege verwirrten. Den
rechten oder linken Nachbarn kannte man nicht, einige Soldaten
verschwanden in der Dunkelheit und kehrten zu ihren Stammeinheiten
zurück. Auch mancher bewährte Infanterist gab auf und verschwand im
Untergrund der zerstörten Stadt. Soldaten, welche die Front verlassen
hatten, fielen in diesem Chaos nicht einmal auf. Überall strömten
versprengte Soldaten von zerschlagenen Einheiten und fliehende Trosse in
kleineren oder größeren Gruppen führerlos nach Stalingrad herein. Sie
suchten Schutz in den Ruinenkellern der Stadt. Hier lagen bereits schon
Hunderte von Kranken und Verwundeten. Die Feldgendarmerie hatte keine
Chance aus diesem Wirrwarr noch kampffähige herauszufiltern und erneut
zum Einsatz zu bringen. Nur zur Nahrungssuche kamen die sogenannten
„Ratten“ noch aus ihren Löchern. Wir Einheitsführer von noch intakten
Verbänden wurden veranlasst, immer wieder Leute zum Infanterie-Einsatz
abzustellen. Weigern konnten wir uns nicht. Was tat man also, man
entsandte nicht die tüchtigsten, sondern schwache Leute oder
Querulanten, die es ja überall gab. Sie taten mir immer wieder leid.
Aber ich war andererseits verpflichtet, die Batterie so lange wie
möglich kampffähig zu halten. Ein erfolgreicher Ausbruch war nicht mehr
möglich. Der Ring um den Kessel wurde enger. Unaufhörlich stießen die
Russen mit ihren frischen Divisionen auf die Stadt zu. Gedanken schossen
manchen durch den Kopf: ein rascher Tod durch Feindeshand oder selbst
ein Ende bereiten. Alles andere lief offensichtlich auf ein elendes
Verrecken hinaus. Und immer wieder wurde aufs neue durch- und
ausgekämmt, mussten Männer abgestellt werden. Ich sah zu, dass nicht
immer dieselben Leute mehrfach auf Himmelfahrtskommando gingen. Es gab
sogar ein paar „Urviecher“, die sich freiwillig meldeten, um dem
hungrigen Alltag in der Batterie zu entkommen. Das waren rechte
Landsknechte - nicht tot zu kriegen. Mit denen konnte man Pferde stehlen
und die kamen fast immer durch. Diese Typen verstanden es sogar noch aus
der Katastrophe ihre kleinen Vorteile zu ziehen. Bei Räumungsaktionen
erbeuteten sie in der allgemeinen Auflösung noch so manches Ess- und
Trinkbare. Auch aus zerstörten Fahrzeugen am Wegesrand war noch so
manches zu holen. Im Gegensatz zu den „Ratten“, kehrten sie immer wieder
zu ihrer Einheit zurück, der sie sich kameradschaftlich verbunden
fühlten. Ihre „Beute“ teilten sie. Im eigenen Verband waren diese
Kämpfer routiniert, mit großen Erfahrungen, denen sie ihre
überdurchschnittliche Lebenserwartung verdankten. Diese ewigen
Obergefreiten, die es gar nicht weiter bringen wollten, kamen immer
zurecht. Verglichen mit anderen Divisionen, welche sich teils schon in
Auflösung befanden, herrschte bei unserer 71. nach meiner Beobachtung
noch relative Ordnung. Das lag auch an den klaren Verhältnissen am
Wolga-Ufer. Die unerfahrenen Leute von uns gingen meist zum problemlosen
Einsatz an die Wolga, wo selten noch etwas passierte. Kampferprobte
Soldaten und Offiziere wurden zusammengefasst und gegen die von Westen
vorströmenden Russen eingesetzt. Unser Divisionskommandeur erreichte so,
dass die Division zusammenblieb und nicht weiter zersplittert wurde. Das
förderte die Kampfmoral und verhinderte unnötige Verluste, die bei den
rasch wieder auseinanderlaufenden Alarmeinheiten häufig auftraten.
Nachschub in irgendeiner Form gab es nicht und auch von außen war keine
Hilfe mehr zu erwarten. Der Ausbruchsgedanke war gestorben. Wir
Kesselverteidiger waren inzwischen zu sehr geschwächt. Resignation
machte sich nun auch in meiner Batterie breit. Die letzten Granaten
wurden für den Endkampf reserviert, obwohl wir keine rechte Vorstellung
hatten, wie er aussehen sollte. Paulus war vor einiger Zeit von Gumrak
in unseren Divisionsbereich übergesiedelt. Sein neues Domizil war der
sichere Keller des Kaufhauses im Stadtzentrum. Da meine Protzenstellung
langsam in den Gefahrenbereich geriet, löste ich sie auf. Die Feldküche
und die vier oder fünf Pferde, welche halbverhungert herumstanden
verbrachten wir ins Erdgeschoß des Badehauses. Der Spieß und die
Verwaltung kamen zu mir in die geräumige B-Stelle. Den besonnenen
Stabsgefreiten Eickmann, der lange Zeit Richtkanonier gewesen war,
machte ich zum „Chef“ meiner 7,62 cm-Halbbatterie an der Wolga. Die
Rechnungsführerei war praktisch zum Erliegen gekommen. Was noch zu tun
war, erledigte der Spieß. Für die 7,62er war noch ausreichend
Beutemunition vorhanden. Auf der zugefrorenen Wolga ereignete sich
nichts. Wir beobachteten feindliche Spähtrupps, doch zum Angriff
entschlossen sich die Russen hier nicht. Der Hunger machte sich immer
schneidender bemerkbar und wurde bei Untätigkeit noch stärker empfunden.
Bei Eickmann ereignete sich ein unschöner Zwischenfall: Unter seinen
Leuten befand sich ein übler Rabauke, der wegen Kameradendiebstahls und
anderer Delikte schon mehrfach kriegsgerichtlich bestraft wurde, ja
sogar schon eine Feld-Strafabteilung durchlaufen hatte. Sein einziger
Bonus war seine Einsatzbereitschaft. Vor Hunger musste er wohl schon
halb wahnsinnig gewesen sein, als er zwei Rumänen überfiel, die mit
einem Handschlitten Verpflegung zu ihren Leuten brachten. Dieser
"Kamerad" musste die Sache sorgfältig ausbaldowert haben. Eine
Spontanhandlung war es nicht. Mit russischer Wattejacke und Pelzmütze
verkleidet versteckte er sich in Haustrümmern. Als die Leute mit ihrem
Schlitten vorbeikamen sprang er hervor und schlug die beiden Rumänen mit
dem Gewehrkolben nieder, um dann mit dem Schlitten zu verschwinden. Er
hatte sich aber verrechnet: In einigem Abstand folgte nämlich eine
Gruppe Rumänen, die er nicht einkalkuliert hatte und die ihn sofort
überwältigten. Sie lieferten ihn bei ihrem Regimentsstab ab. Ein Wunder,
dass sie ihn nicht gleich erschlagen haben. Ich erfuhr von dem Vorfall
durch meinen Regimentskommandeur: „Lassen Sie den Kerl beim
Regimentsstab der Rumänen abholen. Schreiben Sie den fälligen Tatbericht
für das Kriegsgericht und sperren sie den Mann sicher ein, bis ich ihn
durch die Feldgendarmerie abholen lasse. Es muss ein Exempel statuiert
werden. Der Kerl ist schon so gut wie tot, da ist das Urteil nur noch
Formsache. Wenn er ausreißt, mache ich Sie haftbar.“ Jeder sah den
Vorfall in diesem Licht. Der Dieb hatte auch keine Hoffnung mehr, heil
aus diesem Schlamassel herauszukommen, als er mir vorgeführt wurde. Die
Rumänen hatten ihn nicht einmal sonderlich verprügelt. Kleinlaut meinte
er jetzt: „Es wäre wohl besser gewesen, die hätten mich gleich ganz
totgeschlagen. Jetzt bin ich so oder so erledigt.“ Eine ausbruchsichere
Räumlichkeit war schwer zu finden. Schließlich bot sich der fensterlose
Kohlenkeller mit einer festen Eisentür an. Ich setzte mich hin und
erstellte einen Tatbericht, in dem ich seine Strafen und
Disziplinlosigkeiten nicht verschwieg und obendrein auch auf seine
zivilen Vorstrafen hinwies. Ursache für seine Delikte waren durchweg
Hunger und Mittellosigkeit. „Penner“ könnte man ihn fast nennen, doch
dafür war er eigentlich noch zu jung. Er klaute Feldpostpäckchen und
raubte einmal den Verpflegungswagen aus. Aus seiner Zeit beim
Strafbataillon wusste er schaurige Dinge zu berichten. Doch
besserungsfähig erschien er bei seiner Zügellosigkeit nicht. Die
Batterie bemühte sich verschiedentlich ihn loszuwerden. Mein Vorgänger
hatte bei seinem letzten Abschiebeversuch vom damaligen Kommandeur zur
Antwort bekommen: „So etwas kann man doch keinem anderen zumuten, seht
selber zu wie ihr klar kommt.“ Ich hatte bis jetzt mit dem Mann noch
keinen Ärger gehabt und schrieb nun unter Angabe der Quellen meinen
Bericht. Zum Schluss wies ich aber auch auf die positiven Eigenschaften
des Querulanten hin. Dieser Soldat war im Einsatz zuverlässig und besaß
einen tollkühnen Mut. Er gehörte zu den Freiwilligen bei den
infanteristischen Steppeneinsätzen. Schließlich übergab ich meinen
Bericht den „Kettenhunden“, den Feldgendarmen, die den Gefangenen
abholten. „Damit schneiden Sie das Schwein doch vom Galgen ab“,
reagierte mein Regimentskommandeur. „Musste das sein, mit dem Mut und
so?“ „Musste ich denn nicht auch das Positive erwähnen, sollte ich das
verschweigen?“ Ich erhielt keine Antwort. Inzwischen war der Täter der
Division überstellt worden. Nach wenigen Tagen brachte ihn ein
Feldgendarm zurück. Da war er schon wieder obenauf: „Ich soll mich bei
Ihnen bedanken Herr Oberleutnant, hat der Richter gesagt. Todesurteil
ja, aber Vollstreckung ausgesetzt zur Frontbewährung. Ich hole mir meine
Klamotten und werde dann gleich zur Infanterie gebracht, wo ich mich
bewähren soll. Vielen Dank noch mal, das war diesmal verdammt knapp.“
Meine Ermahnung, die ich ihm mit auf den Weg gab, schien er gar nicht
wahrzunehmen. Fröhlich packte er seine Sachen und verschwand mit den
Feldgendarmen aus unserer Stellung. Einige Tage später erfuhren wir,
dass er während eines Stoßtruppunternehmens in ein von Russen besetztes
Gebäude zu Tode kam. Angeblich war er als erster in das Haus
eingedrungen. Als es wenig später auch in unserem Divisionsabschnitt zu
Ende ging, tat sich Eickmann mit einer seiner 7,62 cm-Kanonen noch
einmal hervor. Er hatte auf einen Russenpanzer gefeuert und musste dann
in einem Kellerloch in Deckung gehen. Der T 34 war noch nicht
kampfunfähig und überrollte einen Lafettenholm, den er dabei abknickte.
Als der Panzer vorbei war, sprangen Eickmann und seine Leute wieder an
ihr beschädigtes Geschütz, rissen es herum und feuerten auf das
verwundbare Heck dieses Riesen. Er ging sofort in Flammen auf. Diese
besonnene Selbstverständlichkeit des ganz auf sich allein gestellten
Rechnungsführers imponierte nicht nur mir, sie sprach sich auch wie ein
Lauffeuer im Regiment herum. Eickmann war es nicht beschieden, wieder
nach Hause zurückzukehren, denn den Krieg hat er nicht überlebt. Der
Flugplatz Pitomnik ging am 14. Januar 1943 verloren. Das beendete den
immer unzureichenden Nachschub fast vollends. Es gab nun auch keinen
Begleitschutz durch unsere Jagdflieger mehr. Russische Flugzeuge
beherrschten den Luftraum über Stalingrad. Mit Versorgungsbomben wurde
etwas Munition, Verpflegung und Verbandsmaterial aus der Luft
abgeworfen. Natürlich reichten diese Abwürfe in keiner Weise, um die
Armee wenigstens mit einem Minimum an Gütern am Leben zu erhalten. Viele
Fallschirmladungen verfehlten zudem ihr Ziel und landeten nicht selten
beim Russen. Anderes gefundene Material wurde nicht wie befohlen
abgeliefert, sondern versickerte bei den Findern. Der Kessel verengte
sich jetzt fast täglich. Mit schnellen Beförderungen und Auszeichnungen
versuchte die Führung die Stimmung zu heben. Trotz aller Widrigkeiten
hatte die Truppe in dieser schweren Stunde ihrer Vernichtung,
übermenschliches geleistet. Täglich hörte man aus irgendeiner Ecke des
Kessels massives russisches Trommelfeuer. Dann wusste man, dass dort
angegriffen und der Kessel wieder ein Stück enger wurde. Das russische
Kapitulationsangebot wurde uns durch unzählige abgeworfene Flugblätter
bekannt. Erwartungsgemäß lehnte Paulus in seiner Abhängigkeit von
Manstein und Hitler ab. Wie er persönlich empfand und dachte, blieb
unbekannt. Wir hatten nicht das Gefühl, dass da ein
Armeeoberbefehlshaber führte, obwohl energische Führung Not tat. In der
Steppe um Stalingrad war bei der entsetzlich bitteren Kälte nichts mehr
auszurichten. Die Front dünnte zunehmend aus und wurde ohne Stützpunkte
unhaltbar. Vielleicht hätte man sich auch innerhalb der Stadt in die
Ruinen verschanzen sollen, um sich so besser vor den Wetterunbilden und
dem Gegner schützen zu können. Doch zur organisierten Verteidigung
dieser „Zitadelle“ geschah aus meiner Sicht zu wenig. Für die
eingeschlossene Armee gab es drei Möglichkeiten:
1. Ausbruch so früh wie möglich,
2. Widerstand mit geballter Härte, solange
man den Feind noch schwächen konnte,
3. Kapitulation, sobald der Widerstand
aussichtslos wurde.
Von keiner dieser Möglichkeiten hatte Paulus
Gebrauch gemacht, obwohl er als Befehlshaber einer Armee gegenüber
seinen Soldaten in der Verantwortung stand. Als ich zum letzten Mal bei
meiner „Halbbatterie“ an der Wolga war, betrat ich auf dem Weg dorthin
den Kaufhauskeller am Roten Platz, in dem im September ein
Bataillonsstab unserer Division gelegen hatte. Zufällig traf ich mit
Oberst Roske zusammen, der damals sein Infanterie-Regiment so geschickt
und erfolgreich führte. Ich hatte mehrmals mit Ihm zu tun und war von
seinem jugendlich wirkenden Elan angetan. Wir wechselten einige
Belanglosigkeiten. Er meinte, die Luft im „Heldenkeller“ sei nichts für
uns. Mir kam die aufgesetzte Geschäftigkeit im Kaufhaus irgendwie irreal
vor. Noch immer schwirrten die unsinnigsten Parolen durch die Ruinen der
Stadt: Starke deutsche Panzerverbände würden den Kessel von außen
aufbrechen. Das sei der Grund für die hektischen Angriffe der Russen und
ihr Kapitulationsangebot. Es gelte nur noch wenige Tage durchzuhalten.
Wo sollten die Panzer so plötzlich herkommen, die schon im Dezember den
Kessel nicht öffnen konnten? Alle schwankten zwischen Hoffen und Bangen.
In dieser Zeit ging auch der letzte Flugplatz in Gumrak verloren. Aus
der Steppe und von Gumrak fluteten unzählige Trosse der zerschlagenen
Divisionen in die Stadt. Plötzlich war sogar Treibstoff da. Unaufhörlich
rollten Fahrzeuge in die Stadt. Grau gestrichene Stadtomnibusse, die als
Befehlswagen oder Schreibstuben komfortabel eingerichtet waren,
erweckten den Eindruck, in Stalingrad solle ein Omnibus-Linienbetrieb
eingerichtet werden. Verpflegung, Spirituosen, Treibstoffässer und
Munition - offenbar Schwarzbestände - wurden von Lastwagenkolonnen in
die Trümmerkeller der Stadt transportiert. Gut genährte Zahlmeister in
sauberer Kleidung dirigierten ihre Schätze und verschwanden nur, wenn
russische Flugzeuge in den emsigen Güterverkehr hinein hielten. „Was die
noch alles haben und was die noch alles mit sich herumschleppen?“,
staunten die Landser teils neidisch, teils verbittert, weil es angeblich
seit Wochen nichts mehr gab. Die Unterkünfte wurden jetzt knapp in der
Stadt. Im großen Keller unter meiner B-Stelle gab es noch immer genügend
sichere Unterbringungsmöglichkeiten. Mein Spieß hatte jetzt richtig zu
organisieren. Er machte eine Art Hotelbetrieb auf. Wer unterkommen
wollte, musste mit Naturalien wie Zigaretten, Schnaps oder Kaffee
zahlen, am besten aber mit Lebensmittelkonserven. Sie waren die höchste
„Währung“. Mir war diese Methode zunächst unangenehm und ich wollte
dieses Geschäft unterbinden, doch ich fügte mich als ich sah, dass
unsere neuen „Gäste“ durchweg gut versorgt und zum Teilen bereit waren.
„Das haben die Schweine doch alles gehamstert. Haben uns die ganze Zeit
nur beschissen und wissen jetzt nicht wohin mit dem Zeug.“, meinte der
Spieß. Wenige Tage später kamen auch die abgekämpften Infanteristen,
teilweise einzeln oder in kleinen Gruppen vom Westen her in die Stadt.
Unter ihnen befanden sich zahlreiche Verwundete und viele mit ernsten
Erfrierungen. Es blieb um 20 Grad kalt, oft noch wesentlich kälter.
Schlapp, mit hohlen Wangen, dreckig und verlaust schleppten sie sich
daher. Einige kamen ohne Waffen, obwohl sie durchaus noch kampffähig
wirkten. Die Armee ging sichtlich der Auflösung entgegen. Von Süden her
waren die Russen bis zur Zariza vorgedrungen. Trotz des
Kapitulationsverbots war es bereits zu Teilkapitulationen gekommen. Vor
allem verschreckte Stäbe, aber auch die Reste von Kampfeinheiten ließen
sich widerstandslos gefangen nehmen. Vereinzelt wagten
Divisionskommandeure für ihren Befehlsbereich die Kapitulation. Sinn
hatte unser Widerstand nicht mehr. Jetzt hatte auch Paulus kaum noch
Befehlsgewalt. Er blieb in seinem Keller des Kaufhauses abwartend
sitzen. Auch ihm war die Aussichtslosigkeit seiner Armee nicht
entgangen. An der Zariza wurde die 71. Division mit in diesen Strudel
gerissen. Als unser Divisionsgeneral von Hartmann das Ende seiner
Division kommen sah, sich die Befehlsstränge verirrten oder ganz
zerrissen, Armee und Korps die Lage nicht mehr in der Hand hatten und
weiterer Kampf sinnlos geworden war, entschloss er sich zu einem
würdigen, vielleicht auch bühnengerechten Abgang: Südlich der Zariza
bestieg er den dort entlang führenden Bahndamm und ließ sich von einem
begleitenden Soldaten ein geladenes Gewehr reichen. Aufrecht stehend,
wie eine Zielscheibe, feuerte er auf die angreifenden Russen. Von
Hartmann schoss eine ganze Weile, bis ihn eine feindliche Kugel traf.
Sein Glück war, dass er nicht nur verwundet wurde, was ihn die
Gefangenschaft zusätzlich erschwert hätte, um dann schließlich doch
qualvoll zugrunde gehen zu müssen. Das geschah am 26. Januar 1943.
Andere Offiziere erschossen sich aus Hoffnungslosigkeit mit der eigenen
Pistole. An ein Überleben in russischer Gefangenschaft wagte keiner zu
glauben. Unser Divisionskommandeur hatte gewiss den eleganteren Abgang
gewählt, vielleicht den im Heer hochgeschätzten Generaloberst Fritsch
zum Vorbild genommen, welcher schon im Polenfeldzug auf diese
kavaliersmäßige Weise einen Schlussstrich gezogen hatte. Sofort wurde
Roske zum Divisionskommandeur bestimmt und zeitgleich zum Generalmajor
befördert. Die Nachricht vom Tod des Kommandeurs durchlief die Division
wie ein Lauffeuer. Seine Tat kommentierte man recht unterschiedlich. Ein
imponierender Abgang war es auf jeden Fall. Seinem Nachfolger für die
letzten Tage war es zu verdanken, dass die Division nicht wie andere
völlig auseinander fiel. Kurzfristig gelang ihm sogar noch einmal ein
Stimmungsumschwung. Roske war ein Mann nüchterner klarer Befehle, der
niemand über seine Ansichten und Absichten im Unklaren ließ, der wusste
was er wollte. Für den Durchbruch seines Regiments am 14. September 1942
zur Wolga, war er mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet worden. Er hatte
diese hohe Auszeichnung jedenfalls nicht erhalten weil er schon an der
Reihe war. In diesen schweren Tagen, kurz vor dem Ende, mobilisierte er
die Truppe noch einmal und bildete aus den Divisionsresten einige
Verteidigungszentren. Die Stützpunktkommandanten sollten nach eigenem
Ermessen handeln sobald sie isoliert wären. Er ermächtigte sie zugleich
sich Unterstellungswünschen oder -Befehlen fremder Offiziere anderer
Divisionen zu widersetzen. Damit gab er ihnen die Möglichkeit, sich aus
dem um sich greifenden Chaos heraus zu halten. Aus eigenem Erleben
wusste Roske, dass jetzt nur noch das Zusammengehörigkeitsgefühl kleiner
überschaubarer Gruppen die Soldaten kampffähig halten könne. Obwohl
Roske seinen Gefechtsstand neben Paulus im Kaufhauskeller beibehielt,
handelte er völlig selbständig. Das hatte auch für mich Konsequenzen:
Meine Batterie wurde ein nach Westen ausgerichteter „Igel“. Das besagte:
die Beibehaltung der B-Stelle hatte ab sofort keinerlei Bedeutung mehr.
Jetzt waren alle meine Leute in der Badehaus-Feuerstellung vereint. Die
Pferde wurden abgeholt und sollten der Verpflegung der Division dienen.
Nur drei Tiere durfte ich noch behalten. Aus dem restlichen Hafer buken
wir Brot, das gar nicht so schlecht schmeckte, bei dem aber die Spelzen
störten, die man ausspucken musste. Eins der Pferde schlachtete der Koch
und verarbeitete es zu Gulaschsuppe, die zwar nicht besonders schmeckte,
doch bei der Hungersnot höchst willkommen war. Meine Geschütze wurden
nun in der seit dem 15. September behaupteten Feuerstellung um 180 Grad
nach Westen geschwenkt, von wo der Russe zu erwarten war. Um die
Geschütze errichteten wir Schutzwälle für die Bedienungen, die mit
flachen Laufgräben verbunden wurden. Ich ließ gleichzeitig MG-Nester
anlegen. Das war bei dem tief gefrorenen Boden ein kräftiges Stück
Arbeit. Diese Betätigungen lenkten gleichzeitig von der verzweifelten
Lage ab. Die Fenster im Badehaus wurden bis auf Schießscharten mit
Mauersteinen zugesetzt. An geeignet erscheinenden Stellen hatten wir
weitere Scharten durch das Mauerwerk gebrochen. Unsere Batterie erhielt
nun laufend Verstärkung, die besonders verpflegungsmäßig kaum zu
verkraften war. Die schweren Batterien der IV. Abteilung, vor allem die
Überlebenden der 10. Batterie, der ich so lange angehörte, suchten bei
mit Zuflucht. Sie hatte der Russe überrannt, als sie den westlichen
Stadtrand erfolglos zu verteidigen versuchten. Die Bestände aus dem
Hotelbetrieb meines Spießes wurden eingesetzt, das zweite Pferd
geschlachtet und zwei Hafersäcke kamen unvermutet auch noch zum
Vorschein. Verpflegung für die Truppe gab es keine mehr. Nur ganz selten
konnte man bei den Ausgabestellen der Armee noch etwas erwischen. Die
wenigen Verpflegungsbomben und abgeworfenen Brotsäcke verschwanden bei
denen, die sie fanden. Empörung kam auf, als in Verpflegungsbomben auch
Toilettenpapier und Kondome gefunden wurden. An beidem hatten wir in
unserer Situation gewiss keinen Bedarf. Irgendein Verwaltungsspezialist
aus dem fernen Berlin musste sich wohl eine Standardbefüllung für
Versorgungsbomben ausgedacht haben, die hier nichts nutzte. Zu oft
klafften zwischen Theorie und Praxis Welten. Immer noch befanden sich
einige russische Hiwis in der Stellung, die zu gleichen Bedingungen
miternährt wurden. Wir hatten sie schon lange nicht mehr bewacht und es
bestand reichlich Gelegenheit zum Ausreißen. Angesichts der einfallenden
russischen Verbände verschwand kaum einer um sich bei der Roten Armee
einzureihen. Vielleicht erwartete sie dort aber auch ein grausames
Schicksal. Ein Menschenleben in Stalins Armee zählte praktisch nichts
Jetzt, in der Endphase der Kämpfe, tauchten aus Trümmern und Verstecken
russische Zivilpersonen auf. Alte Männer, Frauen und Kinder, die wir von
Anfang an versuchten zu evakuieren, hatten wie durch ein Wunder
irgendwie überlebt. Bettelnd zogen sie erfolglos auf den Straßen herum.
Wir hatten aber nichts mehr zu verschenken. Auch unsere Soldaten sind
wegen Hunger zusammengebrochen und starben. Wenn am Wegesrand Leichen
verhungerter oder erfrorener Menschen lagen, kümmerte sich niemand mehr
um sie. Dieses Bild war zu alltäglich. Solange wir konnten haben wir
versucht das Elend der Bevölkerung zu mildern. Unsere Leer-Kolonnen
transportierten die Menschen aus dem Gefahrenbereich nach Richtung
Westen. Diese Leute wurden nicht ausgeraubt, vergewaltigt oder gar
getötet. Leider sind diese Scheußlichkeiten später tausendfach an
deutschen Flüchtlingen, insbesondere vom Mob der Roten Armee, verübt
worden. Die Rache der Sieger war furchtbar. Unbegreiflicherweise gab es
noch in den letzten Tagen einzelne Fälle, dass Russen zu uns in den
Kessel hinein überliefen. Was erwarteten sie sich bei uns Deutschen?
Offenbar waren die Kämpfe für sie so hart, dass sie nicht an ihren
unmittelbar bevorstehenden Sieg glaubten, oder die Behandlung durch
eigene Vorgesetzte diese Verzweiflungstat rechtfertigte. Und umgekehrt,
liefen auch deutsche Soldaten zu den Russen über, die mit Flugblättern
und „Passierscheinen“ lockten. Keiner versprach sich von russischer
Kriegsgefangenschaft gutes. Zu oft hatten wir erlebt, dass
Einzelpersonen, kleine Gruppen oder Verwundete bestialisch ermordet
wurden, wenn sie in deren Hände fielen. Deutsche Überläufer handelten
teilweise wohl auch aus Enttäuschung über Hitler, doch selbst das war
keine „Lebensversicherung“. Dennoch mehrten sich Teilkapitulationen
kleinerer Einheiten und sogar ganzer Restdivisionen, weil man hoffte, so
einer geordneteren Gefangenschaft entgegengehen zu können. Diese
Teilkapitulationen waren für benachbarte noch kämpfende Einheiten
katastrophal, weil sie plötzlich in der Luft hingen und vom Gegner
umgangen wurden. Die Kapitulationen erfolgten meist ohne Absprache oder
Information an die Nachbarn. Kapitulieren war nach wie vor streng
verboten. Doch wer hielt sich in diesem Tumult noch an Befehle – kaum
einer. Die Befehlsgewalt der Armee wurde nicht mehr ernst genommen. Das
hätte Paulus an sich zum Handeln zwingen müssen. Doch es geschah nichts.
Die Pferdesuppe meiner Batterie lockte untergetauchte „Ratten“ aus ihren
Löchern. Nachts versuchten sie mein Küchenpersonal zu überwältigen. Wir
mussten sie mit der Waffe vertreiben und stellten von nun an eine Wache
neben die Gulaschkanone. Das zweite Pferd war erst teilweise verarbeitet
worden, das dritte tappte wie ein Gespenst frei im Erdgeschoß des
Badehauses herum. Es brach oft vor Entkräftung zusammen. Versprengten
Soldaten schenkten wir einen Schlag „Klostersuppe“, wenn sie noch ihr
Gewehr dabei hatten und einen Rest an Kampfbereitschaft zeigten. Am 29.
Januar ging ich noch einmal zur Wolga. Meine „Russen-Halbbatterie“ war
einer Infanterie-Kompanie angegliedert worden. Den Leuten ging es den
Umständen entsprechend gut, aber sie sahen natürlich auch das
unvermeidliche Ende nahen. Einige redeten davon, über das Wolga-Eis
auszubrechen und in Gruppen auf Umwegen die deutschen Linien zu
erreichen. Doch wo waren die deutschen Linien? Jedenfalls würde man
zwangsläufig irgendwann die russische Front durchqueren müssen. Auf das
Wolgaeis konnte man durchaus unbemerkt gelangen, doch was dann?
Vielleicht 100 Kilometer in geschwächtem Zustand, ohne Nahrung, durch
tiefen Schnee außerhalb der Fahrspuren marschieren? Das konnte keiner
überleben. Einzelausbruch war keine reale Chance. Einige versuchten es
dennoch. Ich weiß von keinem, dem das gelungen ist. Der Chef der l.
Batterie, Hauptmann Sieveke und auch der Regimentsadjutant Schmidt haben
es versucht und blieben verschollen. Wahrscheinlich sind sie erfroren,
verhungert oder getötet worden. Ich verabschiedete mich von den Leuten.
Ob wir uns je wiedersehen würden? Mein Rückweg führte mich über den
Roten Platz, auf dem immer noch wie eine Art „Luftbrücken-Denkmal“ eine
abgeschossene HE 111 lag. Gegenüber, im Keller des Kaufhauses Univermag,
befand sich Paulus mit seinem Stab. Dort war auch der
Divisionsgefechtsstand der 71. Infanterie-Division. Was dachten oder
taten die Generäle da unten im Keller? Vermutlich nichts. Sie warteten.
Hitler hatte eine Kapitulation verboten und Weiterkämpfen wurde von
Stunde zu Stunde sinnloser. Ich ging weiter zur Schnapsfabrik, wo mein
Abteilungskommandeur noch immer seinen Gefechtsstand hatte und kam an
der Theaterruine vorbei, die nur noch dem Portikus eines griechischen
Tempels ähnelte. Ehemalige russische Barrikaden waren wieder
hergerichtet worden, um nun vor den Russen zu schützen. Der Endkampf
griff auf die Innenstadt über. Im Keller der Schnapsfabrik herrschte
eine gespenstische Stimmung. Der Regimentskommandeur, der Kommandeur der
II. Abteilung Major Neumann und auch mein ehemaliger Mit-Fahnen-Junker
Gerd Hofmann vom Artillerieregiment 19 aus Hannover waren anwesend. Gerd
war jetzt Regimentsadjutant. Es existierten wohl nur noch die Reste der
I. Abteilung, bei der die Obdachlosen Notunterkunft gefunden hatten.
Schnapsflaschen füllten die Tische. Sie lärmten unsinnig, waren stark
angetrunken und sahen schon beinahe wie Leichname aus. Es wurde
ausführlich erörtert wer sich alles schon erschossen hatte. Ich fühlte
mich ihnen psychisch und physisch überlegen. Immerhin konnte ich noch
von meinem Urlaubsspeck zehren. Die anderen hatten sechs Wochen länger
gehungert. Ich wurde zum Mittrinken aufgefordert und hielt zunächst
gerne mit. „Haben Sie noch Ihre Batterie, oder ist die auch schon
abhanden gekommen?“ fragte von Stumpf. „Dann wäre das ja die letzte
Batterie meines stolzen Regiments, das jetzt auch im Arsch ist. Es war
einmal...“ Ich berichtete vom Zugang der versprengen Artilleristen, vom
Stellungsausbau und dass ich jetzt über 200 Mann hätte. Sogar von
unserer Pferdesuppe erzählte ich. Als ich mich nach Weisungen oder
Befehlen erkundigte und auf meine „Igel-Funktion“ hinwies, schlug es mir
trunken entgegen: „Na, da salzen Sie sich Ihre stolze Batterie nur schön
ein, damit sie noch etwas hält bevor sie vermodert. Die hat ja jetzt
Seltenheitswert, die sollte man der Nachwelt für Museumszwecke erhalten,
so eine schöne kleine Batterie.“ „Nun stehen Sie hier nicht so blöd
herum, setzen Sie sich endlich auf Ihren feisten Arsch und trinken Sie
mit uns. Wir müssen doch noch die restlichen Pullen leer machen...“ „Was
macht denn das schöne Fräulein Braut? Weiß die überhaupt schon, dass sie
Witwe ist. Ha-ha, ha…“ „Hinsetzen! Den letzten Tropfen durch die Gurgel
und ein dreifaches Sieg-Heil auf Adolf den Einzigartigen, den Schöpfer
der Witwen und Waisen, dem größten Feldherrn aller Zeiten! Kopf hoch!
Also Prost, so jung kommen wir nicht wieder zusammen!“ Ich hatte mich
schon gewundert, dass die Pistolen neben den Gläsern lagen. „Wenn wir
den Fusel vernichtet haben, na dann, Peng...“ Der Kommandeur der II.
Abteilung hielt den Zeigefinger der rechten Hand an seine Schläfe.
„Peng, und dann ist der große Durst vorbei.“ Ich hielt überhaupt nichts
vom Erschießen und hatte diesen Gedanken für mich noch nie in Erwägung
gezogen. In der stickigen Kellerluft wurde mir vom Schnapsgeruch fast
übel. Der Raum war überheizt. Die Kerzen hatten den Sauerstoff
verbraucht, es stank nach menschlichen Ausdünstungen. Ich verspürte
Hunger. Nur raus aus diesem Loch! Im Kellergang kam mir Gerd Hofmannn
nach: „Mensch, Wüster, bleib doch hier. Wir kapitulieren nicht. Wir
müssen doch sowieso verrecken, wenn uns der Russe nicht gleich umlegt.
Wir haben uns in die Hand versprochen, dass wir selber Schluss machen.“
Ich versuchte ihn von seinem Vorhaben abzubringen und forderte ihn auf,
mit mir zu meiner Batterie zu gehen. Die Trinker würden ihn doch kaum
vermissen. Solange meine Batterie noch einsatzbereit ist, fasse ich
keinen Entschluss über das, was mit mir werden soll. Was ich nach dem
letzten Schuss auf den Gegner tun werde, wenn ich dann noch immer lebe,
weiß ich jetzt noch nicht. Das klärt sich dann. „So sehr heroisch finde
ich es nicht, sich besoffen eine Kugel durchs Hirn zu jagen.“, sagte ich
zu ihm. Aber Gerd Hofmann blieb bei seiner Meute. Im Gegensatz zu mir,
waren ihm Meinungen und Verhaltensweisen von Vorgesetzten stets
Evangelium gewesen. An der frischen Luft wurde mir endlich wieder
wohler. Auf dem Weg zu meiner Batterie ging es mir durch den Kopf: Die
würden zum Erschießen bald viel zu besoffen sein. Aber sie brachten sich
dann doch alle um. Das berichtete abends der Fernsprecher, der die
Leitung zur Abteilung abbaute. Trotzdem war es ein Schock, der zu einem
hoffnungslosen Gespräch mit meinem Hauptwachtmeister führte. Langsam
begannen auch meine Gedanken um den alles beendenden Schuss aus der
Pistole zu kreisen. Dann dachte ich an Ruth und dass ich eigentlich noch
nicht viel von meinem Leben hatte. Ich war noch jung und befand mich
bisher nur in Abhängigkeit anderer. Da waren Pläne, Ziele, Ideen und ich
wollte nach diesem Krieg endlich auf eigenen Beinen stehen. Vieles
sprach für das selbstbestimmte Ende. Es wäre gewiss bequemer, in einer
der unterschiedlichen Herden mitzulaufen. Aber muss nicht letzten Endes
jeder mit seinem persönlichen „Gott“ versuchen ins Reine zu kommen? Zum
Märtyrer fand ich mich völlig ungeeignet. Mein Hauptwachtmeister brachte
mich schließlich mit einem trockenen Landserspruch und einem Schluck aus
der Flasche über den Berg: „Man erschießt sich im Leben meist nur ein
einziges Mal, wenn man dazu nicht zu dumm ist, was vorgekommen sein
soll, Herr Oberleutnant, und was ist hinterher? Manch einer hat das dann
sein ganzes Leben lang bereut. Da sage ich lieber Prost!“ Nach einer
Weile fügte er hinzu: „Warum sollen wir dem Russen die Arbeit abnehmen,
wenn es denn überhaupt sein muss.“ Am 30. Januar 1943 trommelte der
Russe von früh an, auch in unserem Abschnitt, aus allen Rohren.
Dazwischen krachten die demoralisierenden Stalinorgelsalven in
unterschiedlicher Nähe. Es gab kaum einmal eine Unterbrechung, in der
man die Nase aus dem Loch strecken konnte. Der Schnee ums Badehaus war
wie weggeblasen. Die braune Erde des gefrorenen Bodens lag als dicke
Staubschicht obenauf. Bei uns hatte es kaum Verluste gegeben. Die
Betondecken des Badehauses und unsere soliden Erdbunker hatten diesem
Feuersturm stand gehalten. Ein Kanonier wurde von einem Granatsplitter
im Bauch getroffen und ins Badehaus geschafft. Unser Sanitäter befreite
ihn mit Spritzen von seinen Schmerzen. Eine Überlebenschance hatte er
nicht, schon gar nicht unter diesen gegebenen Umständen. Selbst auf den
Verbandsplätzen unter ärztlicher Notversorgung wurde auch nur noch elend
verreckt. Wenn mein Kanonier doch nur möglichst rasch sterben würde,
damit er nicht so lange leiden muss, dachte ich. Nachmittags flachte das
Feuer der Russen ab. Von Westen näherten sich feindliche Panzer. Rechts
von uns befand sich ein Erdhügel über einem Wasserreservoir der Stadt,
der von einer fremden Infanterie-Einheit besetzt war. Linker Hand war
niemand. Dort hatte man schon kapituliert. Vor meiner Batterie wurde in
Sichtweite ein russisches Geschütz in Stellung gebracht. Wir vertrieben
es mit ein paar Granaten. Ein Panzer näherte sich und feuerte eine
Granate in die Nähe des Badehauses. Ohne Befehl sprang der
Geschützführer, Unteroffizier Fritze, mit seinen Leuten an die Haubitze
und bekämpfte den Panzer im Direktbeschuss. Sogar ein Hiwi russischer
Herkunft war aus freien Stücken dabei und machte den Ladekanonier. Bei
dem sich entwickelnden Duell war uns der Panzer mit seiner höheren
Feuergeschwindigkeit im Vorteil, brachte aber keinen Volltreffer zuwege.
Vor Nahtreffern schützte der Ringwall. Fritze hatte schließlich Erfolg,
traf den Turm des T 34 mit einer 10,5 cm-Granate. Ich hatte den
Volltreffer mit meinem Fernglas beobachtet und schickte die
Geschützbedienung in Deckung zurück, doch überraschend fuhr der Panzer
wieder an und begann erneut zu feuern. Unser Volltreffer hatte ihn durch
seine starke Panzerung wohl nicht erledigt. Beim zweiten Volltreffer
hatten wir auch kein Glück. Panzergranaten hatten wir nicht mehr und die
normalen Granaten schlugen meist nicht durch. Erst der dritte Treffer
brachte endlich den ersehnten Erfolg. Er schlug am Heck des T 34 ein und
der Motor des Kollos geriet in Brand. Es hatte mich völlig überrascht,
mit welcher Selbstverständlichkeit meine Leute noch kämpften. Die
erfolgreichen Kanoniere freuten sich fast wie Kinder, schienen ihre
hoffnungslose Situation für einen kurzen Augenblick zu vergessen. Als
nach einiger Zeit ein weiterer Panzer auftauchte, ein noch gewaltigerer
der KW-Klasse, setzte ich vorsorglich zwei Geschütze auf ihn an. Auch
diesen KW schafften wir ohne eigene Verluste zu erleiden. Leider hatte
sich unsere Infanterie vom Wasserreservoir vertreiben lassen. Wir
gerieten in das MG-Feuer der nach dorthin vorgedrungenen Russen. Unsere
Lage wurde immer ernster und aussichtsloser, obwohl inzwischen links von
uns eine eigene leichte Batterie mit veralteten LFH-16-Feldhaubitzen in
Stellung gegangen war. Aber auch die verfügten nur noch über wenige
Granaten. Im Badehaus konnte ich den entbehrlichen Leuten Schutz
anbieten. Es wurde Nacht und die Kampfhandlungen schliefen ein. Den
kommenden Tag würden wir kaum durchstehen können. Wir hatten nur noch 19
Granaten und ich befahl daher vorsorglich zwei unserer Geschütze zu
sprengen. Eins war ohnehin schon beschädigt, wenn auch noch
verwendungsfähig. Für jedes Geschütz besaß man eine l Kg-Sprengladung,
die in Verschlussnähe ins Rohr geschoben werden konnte. Mit einer kurzen
Zündschnur wurde sie gezündet und das Geschütz unbrauchbar gemacht.
Damit zerstörte man das Rohr, den Verschluss und die Rohrwiege.
Plötzlich erschien ein fremder Infanterie-Offizier in unserer Stellung
und wollte die zweite Sprengung verhindern. Er befürchtete, die Russen
würden auf die Materialvernichtung aufmerksam und könnten später ihren
Ärger an deutschen Gefangenen abreagieren. Er redete noch allerhand mehr
daher. Jedenfalls ließ ich auch die zweite Haubitze sprengen. Bald
danach befahl mich der fremde Infanterie-Kampfgruppenkommandeur zu sich.
Warum sollte ich nicht zu ihm gehen? Zur Not konnte ich mich auf meinen
General Roske berufen und meine Unabhängigkeit behaupten. Ich traf auf
einen wichtigtuerischen Oberstleutnant, dem es eigentlich gar nicht mehr
um die gesprengten Geschütze ging. Er befahl mir, noch in der Nacht den
Hügel des Wasserreservoirs zurückzuerobern. Diese Anhöhe beherrschte die
ganze Gegend. Außerdem wollte er sich meine Batterie unterstellen, um
die Angelegenheiten vollständig in die Hand zu bekommen. Dabei verwies
er auf seinen höheren Dienstgrad und versuchte mir zu drohen, als ich
mich auf meine Selbständigkeit berief. Er ließ auch nicht gelten, dass
ich auf die Aussichtslosigkeit hinwies, mit „unausgebildeten“
Artilleristen zurückerobern zu wollen was die Infanterie im Kampf
verloren hatte. Schließlich sagte ich halbherzig einen Versuch zu. Ich
stellte einen Trupp von zirka 60 Mann zusammen, suchte einige geeignet
erscheinende Unteroffiziere aus und wollte beginnen. „Das kann doch
nichts werden.“, entgegnete der Spieß, wollte aber freiwillig mitmachen.
Es war Vollmond bei wolkenlosem Himmel. Auf den vom russischen Beschuss
unberührten Flächen knirschte der Schnee unter den Füßen und ließ die
Umgebung fast taghell erleuchten. Zunächst konnten wir gedeckt vorgehen,
mussten dann aber über deckungslosen Schnee den freien Hügel hinauf.
Kurz vorher vereinbarten wir zeitgleich in zwei Gruppen aus der Deckung
hervorzubrechen, um die Russen zu verwirren. Bisher waren sie noch nicht
aufmerksam geworden, obwohl sie eigentlich schon etwas gemerkt haben
mussten. Oder waren sie gar nicht mehr auf dem Hügel? „Also, dann los!“,
rief ich leise und ging hügelan auf die freie Fläche. Angst hatte ich
schon dabei. Nichts geschah - kein Schuss. Als ich mich umblickte, waren
nur noch zwei Mann in meiner Nähe. Einer war der Spieß. Als niemand
folgte, gingen wir in die Deckung zurück. Dort hockte die ganze Meute -
sagte nichts, rührte sich nicht. „Was ist, habt ihr keine Lust mehr?“,
ging ich sie an. „Nein.“, kam es aus der hinteren Reihe. „Wenn die sich
von ihrem Berg runter jagen lassen sollen sie gefälligst selbst sehen
wie sie wieder rauf kommen. Wir wollen doch da nicht hin.“ „So, da wollt
ihr also meutern? Wollt ihr überhaupt nicht mehr kämpfen, oder was habt
ihr sonst noch vor? Dann hättet ihr doch heute früh dem Iwan seine
Panzer nicht mehr kaputt zu machen brauchen.“, entgegnete ich. In diesem
Moment begriff ich, dass die Zeit meiner Befehlsgewalt abzulaufen
begann. Selbst mit Nachdruck war nun niemand mehr hinter dem Busch
vorzulocken. „An unserm Geschütz bleiben wir und wir schießen auch
zurück, aber Infanterie mit Hurra und so spielen wir nicht mehr, das ist
vorbei.“ Wir machten Kehrt und ich berichtete dem Oberstleutnant vom
Misserfolg dieser Aktion und meiner Vermutung, dass der Hügel unbesetzt
sei. Der gab sich unbeherrscht, krähte von Feigheit und Kriegsgericht.
Als er sich schließlich abreagiert hatte, fragte er, ob die Herren
Artilleristen überhaupt noch zu kämpfen gedächten. Ich antwortete mit
einem müden „Ja“. Zu einem „Jawohl, Herr Oberstleutnant.“ konnte ich
mich nicht mehr aufraffen, ergänzte aber: „Ich nehme an, dass wir morgen
noch kämpfen werden, auch wenn es nicht mehr viel Sinn hat, so wie die
Dinge liegen.“ Jedem war klar, dass der 31. Januar der letzte Tag in
eingekesselter „Freiheit“ für uns sein würde. Nachdem ich mich mit
meinem Hauptwachtmeister abgesprochen hatte, ließ ich alle noch
vorhandene Verpflegung verteilen und wies darauf hin, dass es ab nun
nichts mehr geben werde. Jeder müsse selbst wissen, wie er es sich
einteile. Das letzte Pferd lief noch oben über der Kellerdecke herum,
brach zusammen und kam wieder auf die Beine. Zum Schlachten war es jetzt
zu spät. Die Hufgeräusche waren gespenstisch. Ich ließ alles Gerät,
außer Waffen und den T-Empfänger vernichten. Unser Verwundeter stöhnte
und schrie vor Schmerzen, denn der Sanitäter hatte keine Spritze mehr.
Wenn er doch endlich sterben würde, der arme Kerl, wenn er wenigstens
ruhig sein wollte. Mitgefühl kann sich erschöpfen, wenn man selbst
hilflos wird. Die lauernde Ungewissheit wurde unerträglich. An Schlafen
war nicht zu denken. Lustlos wurde ein letztes Skatspiel versucht, was
aber auch nicht half. Dann tat ich, was fast alle taten: Ich setzte mich
hin und fraß von meinen Vorräten so viel in mich hinein, wie ich konnte.
Das beruhigte zunächst. Haushalten mit der restlichen Verpflegung schien
auch sinnlos geworden zu sein. Auf einmal wurden von meinen
aufgestellten Wachposten drei russische Offiziere hereingeführt. Der
eine, ein Hauptmann, sprach recht gut Deutsch. Niemand wusste, wo sie so
plötzlich hergekommen waren. Ich wurde zur Kampfaufgabe aufgefordert.
Wir sollten unsere Verpflegung strecken, uns mit Getränken versorgen und
die Stellung bei Tagesanbruch mit weißen Fahnen kennzeichnen. Der
Vorschlag war vernünftig, doch wir waren uns noch unschlüssig. Weiterer
Widerstand war eigentlich sinnlos. Ich würde diesen Oberstleutnant
unterrichten müssen, auch die fremde Batterie neben uns. Der
Oberstleutnant musste schon Wind vom Besuch der Russen bekommen haben.
Er zog eine Riesenschau ab: „Verräterei, Kriegsgericht, Erschießung …“
usw. Ich konnte ihn nicht mehr ernst nehmen und wies darauf hin, dass
ich den Kontakt zu den Russen nicht gesucht habe, sondern sie von selbst
gekommen seien. Ich erklärte meine Bereitschaft die Russen
unverrichteter Dinge wieder fortzuschicken, wenn die Infanterie zum
letzten Kampf fest entschlossen sei. Meine Männer würden dann vermutlich
auch am 31. noch mit kämpfen, wenn wohl auch nicht mehr viel
auszurichten sei. „Unterlassen Sie endlich die Gerätezerstörerei. Damit
machen Sie doch die Russen nur verrückt. Nachher machen die gar keine
Gefangenen mehr!“, rief mir der cholerische Oberstleutnant nach. Nun
wusste ich gar nicht mehr wie ich mit ihm dran war. Sterben wollte er
offenbar nicht. Ich schickte die Russen weg, berief mich dabei auf
„höhere Befehle“, die mir „leider“ keine andere Handlungsweise
gestatteten. Diese Version erleichterte mir auch gegenüber meinen Leuten
das Gesicht zu wahren. Wie gewohnt schalteten wir für den Empfang der
deutschen Nachrichten den Transistorempfänger ein und hörten außer
Nachrichten auch die Rede Görings zum 30. Januar, dem zehnjährigen
Jubiläum der nationalsozialistischen Machtergreifung. Es war das noch
gesteigerte bühnenreife Schwadronieren aufgeblasener Phrasen, welches
man früher nicht so abgeschmackt vernommen hatte. Wir empfanden diese
Rede als blutigen Hohn auf uns, die man für Fehlentscheidungen der
obersten Führung hier verrecken ließ. Thermopylen, Leonidas, Spartaner -
wir wollten doch gar nicht mit den Helden des klassischen Altertums
konkurrieren! Stalingrad wurde zum Mythos gemacht, noch ehe alle
„Helden“ tapfer untergegangen waren. „Der General steht neben dem
einfachen Landser, beide mit dem Gewehr in der Hand. Sie verschießen
ihre letzte Patrone – sterben, damit Deutschland lebe.“ „Abstellen! Das
Arschloch lässt uns hier verrecken, macht Sprüche und frisst sich dabei
die Wampe voll. Aber fertig bringt er nichts, der aufgeblasene bunte
Papagei…“ In der Wut wurden noch viele andere Unflätigkeiten
herausgeschrien, die auch gegen Hitler gingen. Ja, wir durften als Opfer
unverantwortlich leichtfertiger Entscheidungen schon im Voraus die
Leichenreden auf unseren Tod mit anhören. Die Geschmacklosigkeit war
wirklich nicht mehr zu überbieten. Görings Versorgungsgarantie hatte das
Ausbruchsverbot wesentlich beeinflusst. Aus sturer Überheblichkeit wurde
eine ganze Armee geopfert. „Wo der deutsche Soldat steht, da kommt kein
anderer hin!“ Das hatte sich im vorausgegangenen Winter schon einmal als
Irrtum erwiesen und wir waren jetzt schon zu schwach zum Stehen - leere
Worte, Phrasen, dümmliches Geschwätz. 1000 Jahre sollte das Dritte Reich
halten und schon nach 10 Jahren begann es zu wanken. Zunächst hatte uns
Hitler fast alle in seinen Bann gezogen. Er hatte alle im geschlossenen
Siedlungsgebiet lebenden Deutschen in einen Deutschen Staat
zusammengeführt. Der Anspruch auf Danzig und eine Korridorlösung war
gerechtfertigt. Wir Soldaten wollten diesen Krieg nicht, wollten nicht
auf irgendwelchen Schlachtfeldern dieser Welt verrecken, selbst auf die
Gefahr hin, dass Stalin ganz Europa bolschewisieren wollte. Aber jetzt,
hier, im fernen Stalingrad, hatten wir die Schnauze gestrichen voll. Im
sicheren Badehauskeller meiner Batterie fragte mich ein älterer
Unteroffizier ernsthaft und ruhig, ob es nun endgültig mit uns zu Ende
gehe und ob denn wirklich nicht mehr die geringste Hoffnung bestehe. Ich
konnte ihm, wie auch mir selbst, keine Hoffnung erklären. Der kommende
Tag würde das Ende bringen. Der Mann war ein kultivierter Reservist mit
erkennbarer Bildung. Wegen seiner Ängstlichkeit war er oft geneckt
worden. Nun ging er ruhig und gefasst in den Erdbunker an sein Geschütz
zurück. Warum hatte er wohl gefragt? Jeder merkte doch, was die Stunde
geschlagen hatte. War es die Suche nach Bestätigung eines kleinen
Hoffnungsschimmers vor dem drohenden unbekannten Schicksal? Funkgeräte,
Fernsprecher und anderes Gerät wurden mit der Kreuzhacke zerschlagen,
schriftliche Unterlagen der Batterie verbrannt. Endlich starb unser
Verwundeter. Ich zog mir ein Paar weite lederne Kommisstiefel an, in
denen ich ein zweites Paar Socken überziehen konnte. Ich trennte mich
zwar ungern von meinen Filzstiefeln, konnte so aber beweglicher sein.
Danach schlief ich unter dem neuen pelzgefütterten Ledermantel, den mir
meine Eltern an die Front geschickt hatten ein. Dieser Mantel hätte wohl
einem General gut zu Gesicht gestanden, aber hier in Stalingrad war er
für einen Frontoffizier unbrauchbar. Dieses schöne Kleidungsstück war
während meiner Urlaubsabwesenheit bei der Batterie eingetroffen. Wie
gern hätte ich im Urlaub mit diesem Mantel angegeben. Jetzt würde er
sicher in russische Hände geraten, wie wohl auch mein Leica-Fotoapparat.
Unbegreiflich, dass mir solche Nebensächlichkeiten durch den Kopf
gingen, wo es doch ums nackte Überleben ging. Ruth, ach ja, daraus würde
nun wohl auch nichts mehr werden. Mit meinem Tod rechnete ich täglich.
Möge er möglichst kurz und schmerzlos erfolgen. Vom Gedanken der
Selbsttötung hatte mich mein Spieß abgebracht. Vielleicht wäre ich aber
auch ohne ihn zu feige gewesen, obwohl Selbstmord ein gewisser Ausdruck
von Feigheit sein mag. Den lieben Gott hatte ich für Stalingrad nicht
verantwortlich gemacht. Was hatte er denn damit zu tun?
Weg in die Gefangenschaft
Der 31. Januar war ein Sonntag. Geschrei
weckte mich: „Die Russen sind da!“ Noch im Halbschlaf stürzte ich mit
der Pistole in der Hand die Kellertreppe nach oben und schrie unbewusst:
„Wer zuerst schießt lebt länger!“ Ich traf einen Russen, der mir
entgegen fiel. Bloß raus aus dem Keller und ran an die Schießscharten im
Erdgeschoß, dachte ich mir. Da standen schon einige Kanoniere und
schossen. Ich schnappte mir einen Karabiner und trat an ein
Seitenfenster um in der Morgendämmerung besser sehen zu können. Russen
drangen in unsere Feuerstellung ein und ich schoss. Aus den Erdbunkern
bei den Geschützen kamen Kanoniere mit erhobenen Händen. Der ältere
Unteroffizier ballerte mit seiner Pistole ziellos um sich. Ein Feuerstoß
aus einer russischen Maschinenpistole machte ihm ein Ende. War es von
ihm Mut, Verzweiflung - wer kann das wissen? Die Feuerstellung war
verloren. Meine Kanoniere wurden als Gefangene fortgeführt. Aber das
Badehaus wurde noch für kurze Zeit zur „Festung“. Es bot jetzt allein
Schutz und Sicherheit. Die fremde Batterie links neben uns war ebenfalls
überrannt worden. Ihr Batteriechef, ein stämmiger Mann, der aus dem
Mannschaftsstande als Hauptmann hervorgegangen war, kämpfte sich mit
einigen seiner Leute zu uns ins Badehaus durch. Die Schießscharten
bewährten sich. Wir schossen unaufhaltsam auf alles was sich draußen
bewegte. Einige Gewehrschützen schnitzten für jeden von ihnen
getroffenen Russen eine Kerbe in ihren Gewehrkolben. Was mögen sie sich
dabei gedacht haben, war es noch einmal Selbstbestätigung mit dem
Erfolgsgedanken längst vergangener Tage? Aber was sollte das alles noch?
Es war sinnlos geworden. Die Russen zogen sich zunächst respektvoll
zurück. Einige unsere Maschinengewehre versagten bei der Kälte. Das Öl
wurde steif und wir Artilleristen wussten uns nicht recht zu helfen. Das
Gewehr war die geeignetere Waffe. Ich schoss immer, wenn ich ein Ziel
wahrzunehmen glaubte, traf aber seltener als erhofft.
Infanterie-Munition war überreichlich vorhanden. Überall standen offene
Munitionskisten herum. Die Schießerei lenkte ab, beruhigte sogar
irgendwie. Plötzlich hatte ich die merkwürdige Vorstellung, in einer Art
Zuschauerposition zu sein. Ich betrachtete quasi alles von außen. Es war
eine Situation, die mir fremd und unwirklich vorkam. Rechts von uns, wo
die fremde Infanterie mit ihrem cholerischen Oberstleutnant war, wurde
nicht mehr gekämpft. Dort schwenkte man weiße Wäschestücke an Stöcken
und Gewehren. Im Gänsemarsch bildeten sich Kolonnen und wurden
abgeführt. .“Seht euch die Arschlöcher an!“ schrie einer und wollte
dazwischen schießen. „Was soll das, lasst sie in Ruhe.“, griff ich ein,
obwohl mir alles gleichgültig war. Es waren 20 Grad unter Null, aber die
Kälte war nicht zu spüren. Im Keller aufgewärmte Maschinengewehre und
Maschinenpistolen funktionieren wieder für kurze Zeit, bis sie abermals
erkalteten und ihren Dienst versagten. Angeblich benutzte die Infanterie
Petroleum, um die Funktion der Waffen zu erhalten. Vorübergehend trat
Ruhe ein. Was kann man jetzt noch machen? Das Badehaus war zur Insel in
der roten Flut geworden - zu einer völlig unbedeutenden Insel, an der
vorbei sich die Flut schon in die Stadt hinein ergossen hat. Seitdem es
still wurde, war die klirrende Kälte wieder zu spüren. Ich verteilte
Ablösungen an die Schießscharten, damit sich jeder einmal im überheizten
Keller, bei starkem Kaffee aufwärmen konnte. Ich frühstückte, was ich
noch hatte. An den Schießscharten beobachtete ich einige Hiwis, die auf
ihre eigenen Landsleute schossen. Wir hatten uns nicht mehr um sie
gekümmert. Die Hilfswilligen hätten noch in der Nacht verschwinden
können. Was mochte in ihnen vorgehen? Gewehre standen genügend herum und
Munition lag überall bereit. Trotzdem hielten sie zu uns, selbst auf die
sichere Konsequenz hin, bei Gefangennahme durch ihre Leute keine
Überlebenschance zu haben. Ihr Versuch, den Krieg in unseren Reihen zu
überleben, war gescheitert. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Der
fremde Hauptmann spielte sich auf, obwohl er doch nur Gast bei uns war.
Er erweckte den Eindruck, als wolle er jetzt noch siegen. Der Mann hatte
vor aus dem Badehaus ausbrechen, um wieder Anschluss an eigene noch
kämpfende Verbände zu finden. Halbherzig folgte ich seinem Entschluss,
obwohl wir kämpfende Einheiten nur noch im Stadtinneren vermuteten. Beim
Verlassen unseres Badehauses empfingen uns Maschinengewehrfeuer und
Granatwerfer. Eisbrocken und Ziegelsplitter trafen mich schmerzend. Also
stürmten wir zurück ins Haus, was nicht mehr allen gelang. Einige
blieben tot und verwundet draußen liegen. Dann näherten sich einige
Russenpanzer und beschossen das Badehaus. Die dicken Wände hielten dem
Beschuss stand. Wie lange sollte das noch weitergehen? Die Zeit verging
erschreckend langsam. Die T 34 rückten immer näher auf uns zu und
feuerten nun gezielt auf unsere Schießscharten mit ihren
Maschinengewehren. Das bedeutete unser Ende. Wer sich an die Scharten
traute, fiel sofort durch Kopfschuss tot um. Es gab viele Tote. In dem
Durcheinander tauchten plötzlich unbemerkt russische Parlamentäre im
Haus auf. Ein Leutnant, ein Hornist und ein Soldat mit einem weißen
Fähnchen an einer Stange, das an ein Jungvolk-Wimpel der Hitlerjugend
erinnerte, standen vor uns. Nur gut, dass keiner der Parlamentäre
Schaden genommen hatte, dachte ich. Der Hauptmann machte Anstalten die
Russen zu verjagen, aber unsere Soldaten hatten genug. Sie stellten ihre
Gewehre fort und suchten ihre Rucksäcke herbei. Die Schießerei hatte
aufgehört, doch ich traute dem Frieden nicht. Vor allem der so markige
Hauptmann war unberechenbar. Ich wollte mich seinem Einfluss entziehen
und sprach mit zwei neben mir stehenden Kanonieren, ob man nicht
versuchen solle, durch einen der bis ans Badehaus heranführenden
Laufgräben zu entwischen. Richtung Innenstadt könnte man vielleicht doch
noch durchkommen und Anschluss finden. Vielleicht suchte der so
entschlossen wirkende Hauptmann den Heldentod um uns dann noch alle
mitzureißen. Geduckt rannten wir drei los und verschwanden unbemerkt in
den nächsten Häusertrümmern. Wir mussten nach dem Lauf einige Zeit
verschnaufen. Ich hatte sogar meinen Ledermantel nicht vergessen. Meine
Leica befand sich in der Kartentasche, denn bis zuletzt machte ich noch
Aufnahmen, die erheblichen dokumentarischen Wert gehabt hätten. Wir
sahen zum Badehaus hinüber. Dort war der Kampf beendet. Die Verteidiger
drängten sich im Gänsemarsch durch ein Spalier russischer Soldaten. War
es also doch kein heldenhafter Einzug nach Walhall, bevor sich der
Vorhang senkte. Wir wären besser beim Haufen geblieben, denn trotz der
hohen Verluste kam es nach unseren Beobachtungen zu keinen Brutalitäten
der Russen. Vorsichtig schlichen wir durch Häusertrümmer in Richtung
Stadtmitte. Es war Nachmittag geworden und wir wussten zu diesem
Zeitpunkt noch nicht, dass sich unser Generalfeldmarschall Paulus von
einem russischen PKW in die Gefangenschaft hatte abholen lassen, ohne
vorher noch einmal die Nase aus seinem Loch zu stecken oder gar ein
Gewehr in die Hand genommen zu haben - Kessel Stalingrad-Mitte hatte
aufgehört zu existieren. Im Nordkessel wurde unter General Strecker noch
zwei Tage länger gestorben. Von Haus zu Haus springend und durch Keller
schleichend, kamen wir drei Ausreißer nicht mehr weit. Wir befanden uns
in der Nähe meiner alten komfortablen B-Stelle, als wir aus einem Keller
herauskommend ein paar Russen vor die in Anschlag gehaltenen
Maschinenpistolen liefen. Ehe ich so recht begriff was geschah, war ich
meinen Ledermantel los. Die Pistole hatte ich beim Erheben der Hände
fallen lassen. Sie fand kein Sammlerinteresse. Als mir bei der
Durchsuchung die weiße Tarnjacke aufgerissen wurde, kamen die
Offiziersspiegel am Feldblusenkragen zum Vorschein. Ein Faustschlag ins
Gesicht folgte einem urigen Fluch. Man drängte uns in eine Mauerecke und
mehrere Russen legten ihre Maschinenpistolen auf uns an. Ich war noch
nicht wieder richtig zu Atem gekommen, apathisch aber ohne Angst. „Alles
aus. Also doch.“, schoss es mir durch den Kopf. „Das hättest du dir ja
denken können, dass die sich nicht mit Einzelgängern aufhalten.“ Ich
empfand eigentlich nichts, wartete gleichgültig, eher teilnahmslos auf
das große unbekannte Aus, von dem ich keine Vorstellung hatte. Die
Frage, ob die Russen uns umgelegt hätten blieb ungeklärt, denn ein
vorbeirollender T 34 hielt an und lenkte die Rotarmisten von uns ab. Sie
sprachen miteinander. Ein ölverschmierter Unterleutnant kam aus dem
Turmgeklettert und filzte uns noch einmal gründlich. Er fand auch meine
Leica, wusste aber nichts mit ihr anzufangen, drehte an ihr herum und
warf sie schließlich achtlos gegen eine Mauer. Das Objektiv brach
heraus. Auch meine vollgeknipsten Filme warf er in den Schnee. Ich
trauerte meinen Bildern nach. Mein ganzes Fotografieren war für umsonst,
schoss es mir durch den Kopf. Natürlich waren wir unsere Armbanduhren
schon gleich zu Beginn los geworden. Trotz aller Proteste brachte der
Unterleutnant auch meinen Ledermantel an sich. An meiner ledernen
Kartentasche war er nicht interessiert, auch nicht an dem darin
befindlichen Skizzenblock und einem Aquarellfarbenkästchen. Doch an
meinen gefütterten Lederhandschuhen fand er Gefallen und zog sie sich
fröhlich grinsend an. Als er in seinen Panzer zurück kletterte, warf er
mir ein Paar ölverschmierte Pelzfäustlinge zu und ein Säckchen mit
russischem Trockenbrot. Zwischen zwanzig und dreißig deutsche Gefangene
wurden an uns vorbeigetrieben. Lachend schob man uns dazu. Auf einem
Trampelpfad ging es Richtung Westen aus der Stadt hinaus. So hatten wir
Anschluss an die Gefangenschaft gefunden und waren gar nicht so
unzufrieden. Die riskanteste Phase vom freien Kämpfer zum rechtlosen
Gefangenen hatten wir, wenn auch auf riskantem Umweg, hinter uns
gebracht. Den Leuten aus dem Badehaus bin ich, bis auf wenige Ausnahmen,
so bald nicht wieder begegnet. Bei strenger Kälte schien die Sonne vom
wolkenlosen blauen Himmel herab. Die Lebensgeister kehrten in meinen
Körper zurück. Ich wollte mit allen Kräften versuchen durchzuhalten und
am Leben zu bleiben. Wie das geschehen sollte, darüber konnte ich mir
keine Vorstellungen machen. Ich erwartete Bahntransport und Lager,
primitiv, wie so vieles in Russland, aber doch erträglich. Zunächst war
das harte Trockenbrot, das ich mit meinen beiden Ausreißern teilte, noch
wichtiger. Bald wurde nichts mehr geteilt: Hunger macht egoistisch und
verdrängt jede Menschlichkeit. Von Kameradschaft und Nächstenliebe
bleibt da nicht mehr viel. Nur die engsten Freundschaften haben noch
Bestand. Dass man mich so arg ausgeplündert hatte, empfand ich nicht
mehr tragisch. Es kam sogar ein gewisses Dankbarkeitsgefühl für den
blonden fröhlichen Panzer-Unterleutnant auf, der seine Beute schließlich
sogar „bezahlte“. Brot war mehr wert als ein nutzlos gewordener
Ledermantel oder eine Kamera, die man doch nicht auf Dauer behalten
hätte. Die verölten Pelzfäustlinge sollten mir noch gute Dienste
leisten. Kein Russe wollte sie mir wegnehmen. Gruppen und Grüppchen von
Kriegsgefangenen wurden durch die Trümmer der Stadt getrieben. Diese
Rinnsale flossen dann zu einer gewaltigen Kolonne von einigen Hundert,
später Tausenden Gefangenen zusammen. Es ging an niedergekämpften
deutschen Stellungen vorbei. Zusammengeschossene, auch ausgebrannte
Fahrzeuge, Panzer und Geschütze aller Art, säumten den Weg aus
festgefahrenem und festgetretenem Schnee. Überall lagen steif gefrorene
Leichen herum - völlig abgemagert, unrasiert, oft verkrampft. Mitunter
türmten sich die Leichen zu verschlungenen Haufen wie vorher
zusammengetrieben und mit Maschinenwaffen niedergemäht. Andere Leichen
wiesen Verstümmelungen bis zur Unkenntlichkeit auf. Diese ehemaligen
Kameraden wurden tot oder lebendig, durch russische Panzer überfahren.
Ihre Körperteile lagen als zerfetzte Eisstücke in der Gegend herum. Ich
nahm das alles im Vorübergehen wahr, doch wie im Halbtraum verschwammen
die grausigen Bilder ineinander, ohne Grauen zu erzeugen. In den Jahren
des Krieges hatte ich so manchen Kameraden verloren, hatte Tod und Leid
neben mir erlebt, aber nie hatte ich auf engstem Raum so viele getötete
Soldaten gesehen. Ich marschierte mit leichtem Gepäck. Mein Rucksack
ohne nennenswerten Inhalt, die Zeltbahn, eine am Weg aufgenommene Decke,
mein Kochgeschirr und meine Kartentasche waren mir geblieben. Immerhin
besaß ich noch eine Dose Schmalzfleisch und einen Beutel mit eiserner
Ration (Zwieback, der nur bei großem Hunger genießbar war). Mein Magen
meldete sich noch nicht nach der vortägigen Völlerei im Badehaus und dem
Russenbrot. In den Lederstiefeln war ich gut zu Fuß und hielt mich im
vorderen Teil des Gefangenenhaufens. Bei einem kurzen Halt musste ich
die Hosen herunterlassen, um mich zu entleeren. Ich erschrak: Die
Unterhose war voll festgetrocknetem Blut. Ich musste mir bei dem
Durcheinander der letzten Kampfhandlungen unbemerkt einen Splitter
eingefangen haben. Ein Betasten der rechten Pobacke führte schließlich
zu dem Ergebnis, dass es nicht schlimm sein konnte und ich kaum Blut
verloren hatte. Es schmerzte kaum bei Druck und blutete nicht mehr. „Und
wieder Glück gehabt.“, sagte ich mir. In der endlosen Gefangenenkolonne
schleppten sich viele nur noch mühsam voran. Ich begriff erst jetzt wie
elend und ausgemergelt die Kämpfer waren. Noch immer zehrte ich vom
Urlaubsspeck. Immerhin hatte ich sechs Wochen weniger hungern müssen und
es als Artillerist besser gehabt, als die hilf- und schutzlos
ausgelieferten Infanteristen in der Steppe. Jetzt sah ich die
ausgehungerten völlig erledigten Gestalten um mich herum, die kaum mehr
in der Lage waren sich aus eigener Kraft fortzubewegen. In grotesken
Vermummungen, teils nur Augen und Nase hervorzeigend, wankte die Masse
kolonnenförmig durch den Eiswind in die Steppe. Immer mehr franste der
Aufmarsch nach hinten aus. Die wenigen russischen Begleitposten hatten
nach und nach ihre vergebliche Schreierei „Buistro“ und „Dawaij“, mit
der sie uns vorangetrieben hatten, aufgegeben. Sie stapften selbst nur
noch mürrisch durch den Schnee. Hinten brachen die ersten erschöpften
Gefangenen zusammen. Anfangs wurden sie von beherzten, kräftigeren
Kameraden noch ein Stück mitgeschleppt. Bald aber wurden auch die noch
stärkeren mit ihrer Last zu schwach. Meine Kräfte ließen ebenfalls nach
und ich quälte mich nur noch mühsam durch den Schnee voran. Wer allein
war, torkelte, brach zusammen und blieb liegen. Der Frost erlöste sie
von aller Qual. Verwundete Kameraden waren von vornherein am meisten
gefährdet. Mit Tritten und Kolbenstößen brachten die Russen die
Liegenden anfangs für kurze Zeit wieder auf die Beine, dann fielen die
ersten Schüsse. Ein Aufschrei ging durch die Gefangenenkolonne. Es
mehrten sich laute Proteste, Flüche und die Forderung stehen zu bleiben,
um eine Rast zu erzwingen. Es folgten Schläge, Stöße, gewaltsames
Wiederantreiben, Schüsse über unsere Köpfe hinweg. Menschlicher
Überlebenswille ließ die schwächsten Gefangenen blind nach vorn drängen,
um der Tötung durch die Posten zu entgehen. Häufigere Schüsse und
schwächer werdende Protestschreie kündeten vom Abstumpfen der Massen.
Jeder hatte mit sich selbst zu tun und setzte mühsam Schritt vor
Schritt. Natürlich war ich empört und erregt, dass die
Begleitmannschaften die kraftlos zusammenbrechenden Menschen kurzerhand
erschossen und liegen ließen. Aber ich war klar genug mich zu fragen, ob
die Posten überhaupt anders handeln konnten. Wer liegen blieb, wäre so
und so bald erfroren. Transportmittel standen nicht zur Verfügung. Die
Russen hatten mit ihrem Vordringen nach Westen selber Transportprobleme
und ihre Führung machte sich wenig Gedanken um die auf sie zukommenden
Gefangenenmassen. Wir waren ja während unseres Vormarsches 1941 mit der
Menge an russischen Kriegsgefangenen auch nicht fertig geworden. Ob
unsere Bewacher auch geschossen haben? Ich weiß es nicht. Mit russischen
Gefangenen hatte ich nichts zu tun gehabt. Aus anderer Sicht war es
vielleicht sogar menschlich, wenn man dem Leidenden mit einem Schuss ein
rasches Ende bereitete. Wer weiß was in diesem Schützen vorging, wenn er
seine Waffe gegen einen wehrlosen, am Boden liegenden erhob. Aber
Mitleid kann sich ein Soldat bei seinem grausamen Handwerk kaum leisten.
Solange das Begleitpersonal noch von Fronttruppen gestellt wurde, hatte
ich nicht das Gefühl, dass man uns schikanieren, quälen oder
systematisch fertig machen wollte. Diese Soldaten erfüllten ihren Befehl
ohne erkennbare Emotionen. Trotz aller rationalen Begründungen bleibt
aber Zorn gegenüber den Siegern. In Stalingrad hätten sich die Russen
auf die zu erwartenden hohen Gefangenenzahlen vorbereiten können. Sie
mussten sich auch im Voraus über den schlechten Gesundheitszustand ihrer
Gefangenen im Klaren sein. Sie hätten insbesondere für die in den
Kellern der Stadt verkommenden Verwundeten Vorbereitungen treffen
müssen, um sie nicht ihrem Schicksal, dem aussichtslosen Kampf mit dem
Tode, zu überlassen. Offenbar hatten sie sich um die Deutschen im
Kessel, trotz wohlklingender Kapitulationsangebote, kaum Gedanken
gemacht. Es ging um die Vernichtung der "faschistischen" deutschen 6.
Armee. Langsam wurde es dunkel. In der Ferne sah man Leuchtkugeln
aufsteigen und das Aufblitzen von Granatabschüssen. Wer kämpfte da noch?
Waren die Leuchtkugeln russische Freudenfeuer oder griffen nun doch noch
deutsche Entsatztruppen an? „Die holen uns hier wieder raus.“ „Wenn
unsere noch kommen, legen uns die Russen aber vorher um.“ Die Parolen,
Zeichen letzter Hoffnung, nahmen zu - eine unsinniger als die andere.
Beleuchtete LKW-Kolonnen kamen uns, fast wie in Friedenszeiten,
entgegen. Wie drohende Schatten standen russische T 34 auf der
schneeglatten Rollbahn. Kleine Feuerchen unter den Bodenwannen hielten
die Motoren warm und startbereit. Russen kannten ihr „Väterchen Frost“
und konnten mit ihm umgehen. Schließlich trieb man uns in eine größere
Balka hinunter, die schon mit Menschenmassen angefüllt war. Alle standen
frierend herum und warteten auf das, was weiter geschehen werde. Wie
stets in unklaren Situationen traten Gerüchte auf. Es soll Essen
ausgegeben werden oder, die Kranken und Verwundeten werden auf
Kraftwagen verladen oder, es geht noch bis zum nahen Don und von dort
aus gäbe es Eisenbahntransporte. Viel wurde noch gerätselt, aber es
geschah nichts. Am oberen Balkarand patrouillierten russische Posten,
die ebenfalls froren. Ich war übermüdet, wühlte mir ein Schneeloch,
schob meine Füße mit den Lederstiefeln in meinen recht leeren Rucksack
und rollte mich unter Decke und Zeltbahn zusammen. Ich schlief sofort
ein. Als ich erwachte, begann bereits der Morgen zu grauen. Ich war
steif und kam nur mühsam auf die Beine. Erstarrt vor Kälte schlug ich
die Arme um mich und trampelte mit den Füßen. Die Nacht hatte ich gut
überstanden. Es gab viel Lärm aber keine Verpflegung, auch nichts zu
trinken. Viele lutschten Schnee, doch das war riskant. Die Kroaten, die
einer österreichischen Division angehört hatten, versammeln sich. Sie
konnten sich sprachlich mit den Russen recht gut verständigen und
versuchen, Vorteile für sich herauszuschlagen. Auf ähnliche Gedanken
kamen auch Österreicher: „Wir bilden den Marschblock Rot-Weiß-Rot!“,
rief ein älterer Rittmeister unentwegt mit Wiener Dialekt - Beck hieß er
wohl. „Was haben wir denn mit euch Nazis zu schaffen, die ihr uns
überfallen habt um uns in eure Uniformen und euren Krieg zu pressen?“
Unentwegt schwadronierte er in ähnlichen Phrasen weiter. Sein Tonfall
wirkte unerträglich. Es versammelten sich schnell etliche Opportunisten
um ihn, die Rot-Weiß-Rot dem Hakenkreuz vorzuziehen gedachten. Auch ein
paar Nicht-Österreicher fanden sich, brachten aber den österreichischen
Dialekt nicht recht hin und wurden verächtlich abgewiesen: „Geht’s ihr
doch mit eurem Hitler, schaut’s, dass ihr weiter kommt, ihr dreckatn
Nazis. Heim ins Reich mit Euch!“ Das alles wurde einem Oberfeldwebel nun
doch zu dumm: „Jetzt halt aber langsam deine gottverdammte Schnauze! So
laut wie ihr 1938 geschrien habt, konnte bei uns gar keiner nach dem
Führer schreien, den ihr lieben Österreicher uns doch erst beschert habt
und jetzt nicht mehr kennen wollt!“ Irgend etwas musste der Rittmeister
erwidert haben, denn plötzlich schlug ihn der Oberfeldwebel mit der
Faust ins Gesicht, so dass er in den Schnee stürzte. „Du dreckiges
verräterisches Schwein! Trägst eine deutsche Offiziersuniform und
kriechst den Russen in den Arsch, ehe sie dich darum gebeten haben!“ Er
war wohl selbst erschrocken über seinen Ausfall und wandte sich ab.
Nichts geschah, doch mir hatte der Mann imponiert und aus dem Herzen
gesprochen. Beck brachte aber seine Rot-Weiß-Roten dennoch zusammen und
kooperierte mit den sich jetzt deutschfeindlich gebenden Kroaten, die
bis zum Schluss als gute Soldaten auf unserer Seite gekämpft hatten. So
unberechenbar waren die Balkanvölker. Die meisten gefangenen
Österreicher fühlten sich aber noch als das was sie waren - als
Deutsche. Doch das sollte sich nur all zu rasch ändern, nämlich als sie
die Hakenkreuzadler von den Uniformen abtrennten und durch rot-weiß-rote
Kokarden ersetzten. Es werden wohl Leute wie Beck gewesen sein, die
schon früh dem österreichischen Wappenadler Hammer und Sichel in die
Krallen gesteckt haben. Nein, heroisch war das Ende der 6. Armee in
Stalingrad nicht. Vom deutschen Soldatenstolz war nichts geblieben. Als
wir aus der Balka an den Posten vorbei herausmarschierten, gab es
tatsächlich Verpflegung: ein Häufchen Hirsekörner in die aufgehaltene
Hand, mit dem man nichts anfangen konnte. Man kaute die Hirse
schließlich trocken herunter. Außerdem gab es noch einen Suppenwürfel,
von dem man nicht abbeißen konnte. Bei einer späteren Rast wurde
versucht trockenes Steppengras zu sammeln und zu entzünden, um die
Würfel mit Schneewasser im Kochgeschirr aufzukochen. Das war ein recht
hoffnungsloses Unterfangen. Die Halme ließen sich in der freien
Schneelandschaft kaum entzünden und ergaben zu wenig Hitze. Als wir
herumliegende Autoreifen entzünden wollten, verhinderten die Russen das
und als wir weitergetrieben wurden, war noch nichts gekocht. Die im
halbwarmen Schneewasser aufgelösten Würfel versuchte man so
herunterzuschlucken. Den Durst musste der Schnee löschen. Den ganzen Tag
schlichen die Kolonnen durch den Schnee dahin. Am Ende der Kolonne
vernahm man die zur Gewohnheit gewordenen Schüsse. Die nächste Nacht
verbrachten wir wieder im Schnee, um dann am Folgetag ohne Verpflegung
weiterzugehen. Mein Schmalzfleisch und meine Eiserne Ration Kekse hatte
ich längst verzehrt. Als wir durch ein langgezogenes Straßendorf mit
elenden Hütten zogen, gab sich die Bevölkerung feindselig. Man
beschimpfte uns in unverständlicher Sprache. Manche wollten uns
anspucken, trauten sich aber nicht nahe genug heran. Wir waren schon ein
rechter Elendszug, bei dem man sich nicht mehr vorstellen konnte, dass
wir noch vor wenigen Wochen Soldaten einer schlagkräftigen Armee gewesen
waren, die den Russen wiederholt das Fürchten gelehrt hatten. Die dritte
Nacht wurde durchmarschiert. Jetzt versiegten auch meine Kräfte. Unter
diesen Umständen würde ich nicht mehr ewig durchhalten, ging es mir
durch den Kopf. Ich kam mit drei unbekannten Leuten aus der Kolonne ins
Gespräch. Wir mussten unbedingt ruhen und schlafen. Kaum ein anderer
Gedanke beschäftigte uns in diesem Moment. Wir wollten versuchen aus dem
Elendswurm auszubrechen. Die Nacht war sehr dunkel und es schneite
leicht. Am Tage waren wir immer wieder an alten verlassenen
Feldstellungen vorüber gekommen. Die ganze Gegend musste noch voller
solcher Gräben und Unterstände sein, die noch aus den Septembertagen
herrühren mochten. Wir kamen überein, uns seitlich abzusetzen und ein
Loch zum Schlafen zu suchen. Man könnte nicht ewig so weitertrotten und
würde schließlich auch zurückfallen, vielleicht zusammenbrechen und
erschossen werden. Gemeinsam machten wir linksum und gingen in die
dunkle Schneelandschaft hinein. Es riefen einige aus der Kolonne hinter
uns her. Die Russen hatten entweder nichts bemerkt, oder es war ihnen
gleichgültig. Jedenfalls geschah nichts. Wir vier gerieten bald in
kniehohen Schnee, aber dann stolperten wir auch bald in ein
Grabensystem. Hier fanden wir ein überdachtes Loch, in dem einmal
Fernsprecher gelegen haben mussten. Es fanden sich Drahtreste von
Fernsprechkabeln und ein vergessener Erdstecker. In der Ferne sah man
noch die Lichter vereinzelter Kraftwagen auf der Rollbahn, wo wir noch
eben im großen Haufen mitgezogen waren. Wir verhängten den Zugang mit
Zeltbahnen und verkrochen uns dicht gedrängt unter den Decken, um uns
gegenseitig zu wärmen. Es wurde eine ganz erträgliche Nacht, nur der
Hunger quälte mächtig. Am anderen Tag schauten wir uns um. In der Ferne
erkannte man den Rollbahnbetrieb. Wir fühlten uns frei, hatten Lust uns
zu den eigenen Linien durchzuschlagen. Wo waren die jetzt? Im Westen
irgendwo. Wo denn wohl sonst? Zunächst suchten wir Bretterstückchen
zusammen, machten ein Feuerchen zum Aufwärmen und schmolzen Schnee im
Kochgeschirr. Das löschte den Durst und füllte etwas den hungernden
Magen. Bei Dunkelheit wollten wir losmarschieren und verschliefen erst
einmal noch den ganzen Tag. Als wir unseren Versuch bei Dunkelheit
starteten, gaben wir in dem zu hohen Schnee bald wieder auf. Ein
Querfeldeinmarsch war aussichtslos, kostete zu viel Kraft, die wir nicht
mehr aufbringen konnten. Wir kehrten erschöpft zu unserem Loch zurück.
Was nun? Man würde wohl oder übel zusehen müssen, wie der Anschluss an
die Kriegsgefangenschaft zu finden sei. Als es Tag geworden war, kehrten
wir zur Rollbahn zurück und marschierten an deren Rand in Richtung
Westen. Es herrschte lebhafter Fahrzeugverkehr in beide Richtungen.
Niemand kümmerte sich um uns abgerissene Gestalten. Schließlich
gelangten wir an eine von Russen belagerte Kolchose. Aus Feldküchen roch
es nach Suppe, die gerade ausgegeben wurde. Große Zelte waren
aufgeschlagen, in denen sich Strohlager befanden. Von uns nahm niemand
Notiz. Schließlich reihten wir uns in die Schlange der Essenempfänger
ein. Als der Koch uns schon das hingehaltene Kochgeschirr füllen wollte,
erkannte er uns als Deutsche und jagte uns fort. Wir drangen in eines
der Zelte vor und setzten uns ins Stroh. Das Zelt war mit liegenden oder
hockenden Leichtverwundeten überfüllt. Auch hier blieben wir zuerst
unbehelligt. Als aber im Zelt die Essenausgabe begann und wir erneut die
Kochgeschirre vorstreckten, wurden wir wieder verjagt, dann aber zu
einem Offizier geführt. Von den Gesprächen verstanden wir kein Wort. Man
schien uns nicht ans Leben zu wollen, war nicht unfreundlich, nur zu
essen gab es nichts. Wir wurden in einen dunklen, abschließbaren
Erdkeller eingesperrt, der Vorratszwecken gedient haben musste. Als sich
die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, suchten wir nach Essbarem.
Nach vielleicht einer Stunde wurden wir wieder herausgeholt und auf die
Ladefläche eines offenen LKW verfrachtet. Sofort fuhr er mit uns los.
Fahren ist immer besser als lauf en, dachten wir. Auf der Ladefläche
standen reichlich braune Papiersäcke. Ich hatte im Saum meiner
Tarnanzugshose mein Taschenmesser versteckt und schlitzte vorsichtig
einen Sack auf. Er enthielt das mir schon bekannte Trockenbrot. Gierig
machten wir uns darüber her. Als wir uns gesättigt fühlten, stopften wir
uns noch Taschen und Rucksack voll. Der geöffnete Sack ließ sich
zwischen den anderen tarnen. Vorsicht war geboten, denn immer wieder
blickte ein Russe aus dem Führerhaus nach uns. Angst vor Entdeckung kam
auf. Als unser Wagen dann an einer endlosen Gefangenenkolonne entlang
fuhr, beschlossen wir abzuspringen und uns einzureihen. Nacheinander
ließen wir uns über die Seitenwand zwischen die Gefangenen fallen,
rappelten uns hoch und verschwanden getrennt in der Menge. Wir haben uns
nie wiedergesehen. Das Intermezzo war beendet.
Ich war Gefangener - dieses Mal endgültig.
Versäumt hatte ich nichts, war aber satt und ausgeschlafen und hatte
sogar noch eine Brotreserve bei mir. So marschierte ich etwas
hoffnungsvoller weiter - einem ungewissen Schicksal entgegen...
Als Artillerist
in Stalingrad Aquarelle eines Überlebenden
66 Jahre nach Stalingrad
Aquarelle
eines Überlebenden
- Bilder des Dr. Wigand Wüster -
Es existieren nicht viele Aufnahmen vom
Stalingrader Kampfgeschehen, welche von den Soldaten gemacht wurden. Das
Elend in russischer Kriegsgefangenschaft ist oft nur schriftlich
dokumentiert. Der ehemalige Oberleutnant der Artillerie Wigand Wüster
hat Stalingrad und die russische Kriegsgefangenschaft überlebt. Sein
Trauma hat er unter anderem mit 48 eindrucksvollen Aquarellen versucht
aufzuarbeiten und für die Nachwelt erlebbar zu machen.
Diese einzigartige Sammlung können Sie in
exzellenter Qualität als Farbkopie im A4-Format zum Stückpreis für 3,00
EUR oder den kompletten Satz für nur 110,00 EUR direkt über den Sohn des
Wigand Wüster (wigand.wuester@yahoo.de)
bestellen.
01

Verteidigung des Badehauses
02

Häuserkampf
03

Januar 1943 - Die letzten Granaten
04

Die letzten Stunden
05

Abmarsch der Gefangenen
06

Nach dem Kampf - Blick aus einer Balka auf
die brennende Stadt
07

Durchgangslager Buraki (oder auch Borowkoff,
Borowki) Anfang Februar 1943
08

Frolow (Frolovo) am Don. Fleckfieberlazarett
Frolow im April 1943
09

Elabuga (Jelabuga, engl. auch Yelabuga) -
Blick vom Kamalager der Kama aufwärts
10

Elabuga (Jelabuga) - Floßbau beim Nebenlager
Bolschoi Bor / Tschelni-Kama
11

Elabuga - Holzfällen an der Kama
12

Elabuga (Jelabuga) - Blick von der Kama auf
das westliche Hochufer
13

Elabuga (Jelabuga) - Der "Informationssaal"
im Kamalager
14

Elabuga (Jelabuga) - Kama-Anlegestelle
15

Bolschoi Bor - In der Erdhütte
16

Bolschoi Bor - Waldlager (oder auch "Lager
Hilwig")
17

Bolschoi Bor - Holztransport im Waldlager
18

Selenodolsk - Im Furnierwerk
19

Saporoshe - Im Eisenbahnreparaturwerk
20

Selenodolsk - Blick auf den Wolgahafen
21

Selenodolsk - Blick auf die einspurige
Wolgabrücke. Die Wolga war im Winter 1946/47 zugefroren. Für das
Furnierwerk muss ein Floß aus dem Eis geholt werden
22

1944 - Klosterlager Elabuga, Der russische
Lagerkommandant Oberst Nikiforoff lässt den deutschen Lagerdolmetscher
Hermann eine der Lagerärztinnen imitieren, um sie zu ärgern. Rechts im
Bild: die aus der Kriegsgefangenenliteratur erwähnte Ärztin Malewizkaja,
wegen ihres gelben Kopftuchs "Zitronenfalter" genannt. Dieses Tuch trug
sie wegen ihres Haarausfalls durch Fleckfieber.
23

1945 - Kamalager Elabuga Die durch Wigand
Wüster im Speisesaal des Kellergewölbes entstandene Wandbemalung
24

1944 - Klosterlager Elabuga (Jelabuga)
Starschina Schuk (russischer Feldwebeldienstgrad), der aufgrund eines
zerschossenen Knies, die Treppen der Lagergebäude nur auf allen Vieren
bewältigen konnte. Seine Laterne hielt er dabei mit den Zähnen.
25

31. Januar 1943 - Abmarsch in die
Gefangenschaft
26

27. Dezember 1942 - Bruchlandung einer HE
111 auf dem Flughafen Morosowskaja (der wichtigste Versorgungsflugplatz
200 km westlich Stalingrads), nach dem missglückten Einflugversuch in
die Stadt.
27

Diesem Thema etwas abgewandt, aber zum
Nachdenken anregend: Das untergegangene Staatsschiff "Deutschland" mit
den verschiedenen Opfergruppen.
28

Der gerade beförderte Generalfeldmarschall
Paulus wartet auf den Abtransport durch die Russen
29

Die menschenunwürdigen Bedingungen während
der Gefangenentransporte in die russischen Lager. Als Abort für teils
über 50 Leute diente eine nach außen durch die Seitenwand geführte
Blechrinne.
30

Letzter Aufenthaltsort vor der
Gefangenschaft und im Bericht des Herrn Wüster häufig erwähnt - das
Badehaus. Nach aktuellen Informationen ist auf den noch immer erhaltenen
Resten des damaligen Badehauses erst kürzlich wieder eine Art Bad
errichtet worden.
31

In der Nacht vom 14. zum 15. September 1942
hat die 71. Infanterie-Division die Wolga erreicht.
32

Blick in eine der zahlreichen Balkas von
Stalingrad
33

Blick auf die schwer umkämpften
Getreidesilos. Diese Bleistiftzeichnung entstand am 22. September 1942.
Mit dem letzten Heimaturlaub des Oberleutnant Wigand Wüster im November
1942 ist sie mit nach Deutschland gelangt.
34

Das Gefangenenlager 97B in Elabuga
(Jelabuga) oder auch "Klosterlager" genannt im Jahre 1943. Das vordere
Gebäude in der Platzmitte ist die von den Kriegsgefangenen aus Holz
errichtete so genannte "Deutschlandhalle". Vorn links unten: der
Lazarettbau.
35

Häuserkampf, "Arbeitsgeschütz" der 2.
Batterie / Artillerie-Regiment 171
36

Theater, Musik und Tanz - Saporoshe im
Sommer 1949. Lampionfest der "Kulturgruppe" im Zivilinterniertenlager
(Siebenbürger Sachsen) beim Stahlwerk.
37

Durchgangslager Buraki im Februar 1943
38

Kopie von Shishkins berühmten Gemälde
"Morgen im Walde" (Morning in pine forest). Das Original entstand 1889
und Wigand Wüster malte dieses Bild während der Zeit seiner
Gefangenschaft in Saporoshe des Öfteren als "Auftragsarbeit" für das
russische Personal. Shishkin stammte aus Elabuga (Yelabuga).
39

"Kaffeehausbetrieb" im Gefangenenlager
Saporoshe
40

Hundemord - Der Besitzer Grünpeter beim
Entdecken der Tat.
41

Im Gefangenenlager Elabuga (Jelabuga, engl.
auch Yelabuga) werden vor Hunger Hunde getötet.
42

Stalingrad - Beschießung des Getreidesilos
43

Das Durchgangslager Buraki (Borowki) im
Februar 1943. Ein unfreiwilliges "Bad" im Fluss Ilowlja.
44

Gedanken zum Thema "Befreiung"
45

Sommeroffensive 1942. Rast im Wald -
Stalingrad ist noch fern.
46

Ein von Oberleutnant Wigand Wüster
eingesetztes, russisches Beutegeschütz (7,62 cm-Pak).
47

Gefangenentransport von Kasan (Tatarische
Republik) nach Selenodolsk.
48

31. Januar 1943, Stalingrad Mitte,
Gefangennahme durch russische Soldaten
49

Februar 1943, Stalingrad nach dem Ende der
Schlacht
50

Dezember 1942, Flugplatz Pitomnik
51

Der "Brunnen der tanzenden Kinder" vor dem
Bahnhof Stalingrad Mitte
52

1945, Kriegsgefangenenlager Elabuga
Als Artillerist
in Stalingrad
Aquarelle eines Überlebenden
66 Jahre nach Stalingrad
66 Jahre nach
Stalingrad
Wigand Wüster im Jahr 2009

Wigand Wüster mit Ehefrau Ruth
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Wigand Wüster und Torben Laursen,
der "Als Artillerist in Stalingrad"
ins Dänische übersetzte und
bei der Herausgabe der englischen
Fassung mitarbeitete.
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Wigand Wüster bei einem Vortrag über
Stalingrad |
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